Alle Beiträge von Modeste

Dicke Frauen

„Kann mir gar nichts Ekligeres vorstellen …“, höre ich und drehe mich um. Da sitzt ein schlanker Mann in den Fünfzigern, Strohhut, graues offenes Hemd über einem weißen T-Shirt und bemerkenswert gut sitzende Jeans. Es geht um dicke Frauen. Dicke Frauen mit Tätowierungen, dicke Frauen mit zwei Haarfarben, dicke Frauen, die Kaugummi kauen, aber vor allem dicke Frauen, die öffentlich essen. Dem Mann, der da mit einem anderen, ein wenig jüngerem Mann vor einer Bar sitzt, vergeht dann nämlich alles.

Für einen kurzen Moment schäme ich mich tatsächlich für meine zweite Portion beim Abendessen und dafür, dass ich diese Woche mein Bewegungspensum nicht geschafft habe. Ich will jeden Tag 10.000 Schritte gehen und zweimal die Woche joggen, das ist gar nicht so leicht. Dann aber ergreift mich ein roter Zorn, und ich würde mich sehr gern genau vor dem Mann hinstellen und vor seinen Augen einen halben Liter Schlagsahne löffeln. Stattdessen schauen eine fremde Frau und ich uns gegenseitig an, ziehen eine lustige Fratze und lachen uns fröhlich an und wünschen allen dicken Frauen der Welt einen gesegneten Appetit. Lassen Sie uns speisen.

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Der äußerste Optimismus

Die halbe Welt macht sich angeblich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Ich dagegen, und mit mir mein geschätzter Gefährte, sehen mit Optimismus in die Zukunft unseres F., und das liegt nicht etwa an unseren nicht vorhandenen Reichtümern oder an einer gleichfalls nicht erkennbaren Hochbegabung. Hochbegabung kann hier schließlich jeder. Der F. dagegen lässt weit wertvollere Anlagen erkennen.

Nehmen wir etwa so einen gewissen Hang zur Manipulation. Wir etwa kürzlich so auf dem Spielplatz. Der F. rennt mit seinem Freund A. zwischen den Klettergerüsten herum, rutscht, schaukelt, und dann steht er lange vor dem Gerüst und starrt nach oben. Das Gerüst ist hoch, erst recht, wenn man selbst nur so circa einen Meter und zehn zählt, und oben könnte man – das kann man deutlich sehen – ziemlich tief fallen. Der F. starrt also den Turm an und der Turm starrt zurück. Schließlich fällt dem F. etwas ein.

„Da kommst du nicht rauf.“, wendet sich der F. laut an den A., den ebenfalls vierjährig neben ihm steht. „Das kann niemand. Nur mein Papa!“, vertieft der F. seine Äußerung und deutet herausfordernd auf die oberste Plattform. Als der gleichwohl A. zögernd am Fuße des in der Tat ziemlich hohen Spielgerüsts stehen bleibt, legt der F nach: „Da kommst du auch nicht drauf, Lalalala!“.

Wenige Minuten später hat er den A. soweit: A. sitzt auf dem Klettergerüst ganz oben. Der F beginnt vorsichtig, ebenfalls die Stufen zu erklimmen. Und als er auf der ersten ungefähr mittigen Plattform dann doch den Mut verliert, brüllt er nur kurz noch oben: „Da oben ist es viel zu warm.“

Mit Freuden entdecken der geschätzte Gefährte und ich auch eine gewisse Neigung zur beherzten Angeberei. So ist es dem F. vor einiger Zeit gelungen, seine Freunden weiszumachen, er könne schon lesen und schreiben.  Bisweilen zieht man ihn nun als Experten heran,  dann hilft er sich mit einer Mischung aus einem gut entwickelten Sinn für das Wahrscheinliche und der Kenntnis einzelner Buchstaben. Erst kürzlich auf einem Kindergeburtstag brüllte er beherzt auf die Fragen der Gastgebermutter, wer denn die Namen auf den Geschenktüten schon entziffern können: „Ich!“ Stolz sahen der J. und ich uns an. Unternehmensberater? Investmentbanker? Oder einer der erfolgreichsten Anlagebetrüger des noch jungen Jahrhunderts?

Auch die Fähigkeit, mit der ernsthaftesten Miene der Welt die unwahrscheinlichsten Geschichten zu erzählen, wird den F. noch weit bringen. Wer in Flugzeugen lauten Vordersitzern mit der Tötung durch Angela Merkel droht, und bei einem Waldspaziergang behauptet, erst kürzlich mit seinem in unserem Keller wohnhaften Drachen eine Wildschwein- und Hirschkontrolle auf Vollständigkeit durchgeführt zu haben, muss sich keine Sorgen machen, wenn er dermaleinst Banken gegenübertritt, um Finanzierungen inklusive üppiger Gehälter zu ermöglichen, sich Finanzprodukte ausdenkt oder gar eine Sekte gründet.

Wie ich gehört habe, wird der Teil der Schulbildung, den man schlicht lernen muss, sowieso immer kleiner. „Skills“ seien gefragt. Das ist vermutlich genau F.’s Ding.

Sonnenbrille

Oje. Jetzt ist sie weg. In allen Taschen habe ich nachgesehen, in allen Schubladen und in meinen Schränken. Gestern habe ich geglaubt, sie sei im Büro. Heute musste ich feststellen: Nichts dergleichen. Meine Sonnenbrille ist weg, und ohne Brille kann es hier nicht wirklich Sommer werden, weil erst Sommer ist, wenn ich im Café sitze, ein Weißbier vor mir, nackte Füße in Ledersandalen und die Sonnenbrille vor mir auf dem Tisch, und der Sommer malt schaukelnde, schwankende Flecken auf meine Beine und auf meinen Weg.

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Mama Modeste regt sich auf

Die Aktion #Muttertagswunsch regt mich auf. Ich meine ausdrücklich nicht Frau Finke vom Blog Mama arbeitet, die eindrucksvoll zeigt, wie eine tolle Frau mit ihren Lebensplänen hinfallen kann und sich tatkräftig und tapfer am eigenen Schopf aus der Misere zieht. Aber viele der Wünsche, die sich bei Twitter wieder finden, meinen die geschätzten Mitmütter hoffentlich nicht ernst.

Ihr meint doch nicht wirklich, dass jemand in 20 oder 25 Stunden Teilzeit genau so tolle Häuser bauen, Prozesse führen oder regieren kann, wie jemand, der das 40, 50 oder 60 Stunden tut? Die meisten Projekte brauchen nun einmal Zeit. Ihr denkt doch auch nicht im Ernst, dass eine Kollegen als genauso verlässlich geschätzt wird, bei der man nie so ganz genau weiß, ob sie  am Montagmorgen erscheint, oder sich wegen eines kranken Kindes abmeldet. Haltet ihr es denn wirklich für zumutbar, dass dieser Frau genauso wichtige, zeitkritische und verantwortungsvolle Projekte übertragen werden, wie jemandem, der nur ein Zehntel dieser Ausfalltage hat? Wer soll das kompensieren? Und Ihr meint, da soll man als vertretende Kollegin auch noch immer freundlich lächeln? Auch, wenn man selbst den Tisch voll hat und pünktlich los muss? Und glaubt ihr denn in vollem Ernst, dass es richtig ist, jemanden, der nicht oder kaum in die Rentenkasse eingezahlt hat, später genauso viel auszuzahlen, wie jemandem, der jahrzehntelang jeden Morgen zur Arbeit gegangen ist? Ich weiß, Ihr meint, das rechtfertigt sich durch die Erziehung späterer Beitragszahler. Aber wenn ihr euch durchsetzt, wird ja mindestens die Hälfte eurer Kinder sich ebenfalls zu Hause mit Kindererziehung beschäftigen. Gibt es für deren Aufzucht dann weniger Rentenpunkte? Warum soll dafür jemand aufkommen, wenn das volkswirtschaftlich deutlich günstiger in Betreuungseinrichtungen geleistet werden kann? Ihr meint, eine allzeit präsente Mutter kann aber nichts ersetzen? Ganz ehrlich: Wenn ich um fünf in der Kita erscheine, rennt mein Vierjähriger meistens selig hinter eingebildeten Mammuts und Säbelzahntigern her, bastelt merkwürdige Artefakte oder singt. Zum Glück ist er in unserer Prenzelberger Kita damit auch nicht allein. Wenn Ihr alle Eure Teilzeitwünsche umsetzt, wäre er das aber, so dass auch wir faktisch gezwungen wären, früher abzuholen, damit er nicht als letztes Kind einsam auf der Schaukel sitzt, und uns damit beruflich beschneiden.

Im Ernst, meine Damen, so stelle ich mir politische Forderungen nicht vor. Ich habe auch keine Lust, irgendwas für eure Fünfzigerjahreidylle zu bezahlen. Und ich sehe nicht ein, warum ihr jahrelang studiert, um dann doch Brot zu backen und Patchworktiere zu nähen.

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, sieht das deswegen folgendermaßen aus: Ich wünsche mir Betreuungseinrichtungen mit einem hohen Standard, die eine echte Vollzeit bequem möglich machen. Ich wünsche mir, dass Betreuungskosten voll absetzbar sind.  Warum nicht über die Abschaffung der unökologischen Pendlerpauschale finanzieren? Ich wünsche mir weiter, dass Väter und Mütter gleiche Ausfallrisiken haben. Ich habe gehört, in Skandinavien muss die Elternzeit paritätisch geteilt werden. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Etwas ähnliches stelle ich mir für  Zeiten vor, in denen Kinder krank sind. Vielleicht kann man hier paritätisch teilen an denjenigen Tage, an denen Kinder wirklich so krank sind, dass sie einen Elternteil brauchen? Für die lästigen Tage, an denen das Kind quietschfidel, aber mit verklebten Augen oder einem kräftigen Schnupfen durch die Wohnung hüpft, wäre die bessere Absetzbarkeit einer Betreuung daheim oder für sozial schwache eine kommunale  häusliche Tagespflege toll.

Ich wünsche mir weiter, dass das Ehegattensplitting ersatzlos entfällt. Ebenso wünsche ich mir ein Ende der beitragsfreien Mitversicherung von Hausfrauen in der Renten-und Krankenversicherung. Das Hausfrauenmodell, dass viele Frauen nach Ende der Familie Phase ins berufliche Abseits führt, würde so von vornherein vermieden. Wer das dann trotzdem möchte, soll solche Lösungen privat ausgestalten können. Denkbar wäre etwa eine  Versicherung, die der Mann für seine Hausfrau abschließt. Vielleicht sogar ein richtiger und versicherungspflichtiger Beruf? Na klar, das kann nicht jeder. Aber, ganz ehrlich, das gilt für vieles andere im Leben auch. Wer also eine private Haushaltshilfe, Kinder und Heimdekorateurin sucht: Nur zu.

Vielleicht haben wir dann in 20 Jahren solche Muttertagswünsche gar nicht mehr nötig. Und 50% Frauen in Führungspositionen.

Und rein.

Aber dann doch der endlose Himmel. Vor mir der Pferdehals, das weite, karge Land, und wie sich meine Beine irgendwann erinnern, dass sie das doch mal konnten. Mit Pferden und so. In meinem Kopf wirbeln all die Jahre durcheinander, in denen ich in Städten lebe und langsam vergehe, und als auf der anderen Seite des Zaunes mein Kind winkt und strahlt, schließt sich meine Welt zu einem ganzen, klaren Chrysolith und funkelt in der ersten Sonne des Jahres, als wäre dieser Tag der erste Tag von allen und die Welt makellos und rein.

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Plädoyer für mehr Gleichgültigkeit

Von der X hört man, sie lebe jetzt allein mit den Kindern, und vom Y, er suche gerade eine Wohnung. Der Z ist gerade nach Neukölln gezogen, um dort in Bars gerammelt voller zwanzig Jahre jüngerer Hipster seine vermutlich mindestens zweite Jugend zu suchen. Alle miteinander verstopfen den ohnehin derzeit etwas strapazierten Berliner Wohnungsmarkt, streiten sich um Geld, Kinder, Freizeit, Sommerhäuser und die Deutungshoheit über die vergangenen zehn Jahre, und bisweilen verwechsele ich beim teilnahmsvollen Zuhören die nie rechtzeitig abholenden Exmänner, die nur auf Zuruf Kinderschuhe kaufen, und trotz Trennung und Scheidung immer noch leben wie die Maden im Speck, während die gebeutelten Frauen zwar die Wohnung behalten, aber ohne Putzfrau den Kindern nun Nudeln bei Lidl kaufen müssten.

Die Männer, so hört man, sind allesamt nach zwei Jahren wieder in festen Händen und bekommen nach vier Jahren mit jüngeren Frauen weitere Kinder, vermutlich, um sich nun nicht mehr auf den Spielplätzen von Prenzlberg, sondern auf denen von Neukölln zu langweilen. Die Frauen treffen mehr oder weniger reizende Männer, ziehen mal zusammen oder auch nicht, und leben ebenfalls, wenn ich es richtig sehe, nicht wesentlich anders weiter als zuvor. Da sitzen sie dann also alle beim Wein, fünf Jahre später: Selbes Leben, anderer, oft recht ähnlicher Partner, nur die Vermögensverhältnisse und die Wochenendorganisation sind ein bisschen schwieriger geworden.

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Puh, denke ich dann bisweilen, während ich den X, Y und Z zuhöre. Mühsam klingt das. Und irgendwie gar nicht so arg oft, als habe sich der ganze Ärger und das viele Geld so wirklich gelohnt. Hätte nicht doch die X bei ihrem etwas schusseligen Erstehemann bleiben sollen? Der hätte zwar bis heute nie ohne Zuruf Geburtstagsgeschenke gekauft oder Kuchen fürs Kitasommerfest gebacken, und auch nur unter Androhung von ernsten Sanktionen die Kinder zweimal wöchentlich morgens zur Schule gebracht. Allerdings ärgert sich die X doch bis heute über diesen, nun die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts betreffenden Misstand, aber damals, während sie noch verheiratet war, ärgerte sie sich immerhin deutlich besser finanziert und mit Putzfrau und einem vernünftigen Wagen ausgestattet. Hätte nicht auch der Y einfach in der schönen, geräumigen, Fünfzimmerwohnung in Mitte bleiben sollen, statt nun beengt in zwei Zimmern in Moabit zu hausen und seinen Sohn nur noch zweimal die Woche zu sehen, der ihn derzeit zudem leider hasst? Warum also nicht einfach in freundlicher Distanz verheiratet bleiben, sehr höflich miteinander sein, zwei Schlafzimmer unterhalten, bisweilen sich auf diskreten Abwegen ein wenig amüsieren, weil so ein Dasein ganz ohne Liebesleben ja auch nicht zumutbar ist, und in gepflegter Gleichgültigkeit so lange nebeneinander herleben, bis man wieder halbwegs miteinander befreundet ist. Und vielleicht wird ja irgendwann auch mal wieder mehr draus.

(Aber zugegeben: Ich möchte das auch nicht.)

Weit weg und immer weiter

„Du bist meine Lieblingsmama“, gähnt der kleine Kerl und nennt sich mein „allerliebstes Kuscheltierchen von der Welt“. Ich singe ihm sehr, sehr leise Abendlieder vor und puste das feine, braune Haare zur Seite, das mir die Nase kitzelt. Schlaf gut, sage ich und sperre mit den roten Samtvorhängen die Stadt aus, bis nur noch ein sanfter Kindermond seinen kleinen Himmel füllt. Schon hat er die Augen geschlossen und träumt wohl vom Fallenstellen, von Mammuten, von der ganzen Tafel Schokolade, die er sich kaufen will, wenn die Oma ihm Geld gibt.

Mama, ächzt er noch im Schlaf und ich streiche ihm sanft über Brust und Arme. Vier ist er jetzt. In zwei Jahren kommt er zur Schule. In sechs Jahren wird er schon Sextaner sein, dem es peinlich sein wird, wenn ich ihn abhole und umarme. In zehn Jahren muss er sich vielleicht sogar schon ein bisschen rasieren. Ob er dann schon eine Freundin haben wird? Und ob er direkt mit 18 auszieht oder aber noch ein paar Jahre zu Hause bleibt? Doch ob er mit 15 für ein Jahr nach Portland geht, oder mit 19 in Paris studieren möchte: Von diesem Abend an, ach: von dem Moment an, an dem sie ihn mir im Krankenhaus Friedrichshain auf den Bauch gelegt haben, wird er sich immer weiter und weiter entfernen, bis ich ihn kaum noch sehen kann, und ich kann mir nicht vorstellen, ihn nicht jeden Abend schmerzhaft zu vermissen, an dem wir weiter entfernt sein werden, als jetzt.

Madame will mal brüllen

So. Jetzt ist mein Text also weg. Gut, er war vielleicht nicht besonders toll, weil in meinem Dasein eben so wenig passiert, wie das bei Vierzigjährigen mit bürgerlichem Job und Familie eben so zuzugehen pflegt. Trotzdem ärgere ich mich. Über wen? Wer kann das wissen.

Zeitung könnte ich lesen. Aber dann ärgere ich mich. Ich habe nichts gegen Komiker, aber warum findet die versammelte deutsche Presselandschaft einen Komiker und seine Probleme wichtiger als die verzweifelten Syrer an der mazedonischen Grenze, in Syrien, in Lagern in der Türkei? Ich ärgere mich jedesmal, wenn ich online Zeitung lese, über die Selbstgerechtigkeit der Kommentatoren, die sich offenbar für unfehlbar halten und ihr eigenes Weltbild für absolut wahr statt relativ fehlbar. Ich habe inzwischen ziemlich viel Geld für blendle ausgegeben, weil da wenigstens keiner kommentiert.

Wenn ich mal was schreibe, ärgere ich mich über die Autokorrektur. Irgendwann fahre ich aus der Haut, weil ich Worte dreimal schreibe, und dann ändern die sich jedesmal in irgendetwas, was ich nicht schreiben will. Gehe ich vor die Tür, ärgere ich mich über Radfahrer, die dermaßen rapide über die Bürgersteige brettern, als gebe es ein Gesetz, nach dem dort, wo besonders viele Kinder verkehren, besonders schnell gefahren werden muss, um die Überbevölkerung einzudämmern. Apropos: Viele Kinder nerven mich auch.  Erzieht die eigentlich keiner? Die Berliner Verwaltung regt mich auch auf wie jeden rechtschaffenen Berliner. Außerdem habe ich mehrere Tage weniger gegessen, war danach aber schwerer als zuvor. Natürlich ärgere ich mich auch über das Wetter.

Die Konvention erfordert es leider, sich gleichgültig zu geben. So wenig, wie man, freut man sich, auf der Straße tanzen und sich auf die Brust trommeln darf, kann man auf der Straße herumpöbeln und mit Kraftausdrücken um sich werfen. Das macht man alles ganz heimlich, und bisweilen, heute zum Beispiel, ärgere ich mich über dieses Verbot, sich öffentlich zu ärgern, und würde gern, sehr gern, mich jetzt auf der Stelle auf die Straßenkreuzung stellen, dort – man sieht derzeit weder Menschen noch Autos – dreimal ganz laut Dreckswelt schreien.

Dann gehe ich wieder rein.

Banh Xeo Saigon

Ich habe mal ein paar Monate in Thailand gelebt und hätte immerzu essen können. Okay, vielleicht habe ich immerzu gegessen. Ich habe morgens gebratenen Reis gegessen, ganztags Obst, mittags und abends diese großartigen Curries, und zwischendurch Teigtaschen, Pfannkuchen, Wachteleier mit süßer Sojasauce, Spieße mit Hühnchenfleisch, und Suppen, Suppen, Suppen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich eigentlich gearbeitet habe, denn ich musste ja den ganzen Tag essen, und als ich abgereist bin, war ich als wahrscheinlich einzige Thailandreisende aller Zeiten schwerer als bei meiner Ankunft, weil die anderen ja alle wegen des leichteren Thaiessens abgenommen hatten.

Als ich im Januar das erste Mal nach Vietnam gefahren bin, hatte ich das eigentlich ähnlich erwartet. Es gab auch Curries, es gab Suppen, es gab alles Mögliche, aber so gut, so gut wie in Thailand ist das Essen nicht. Die vietnamesische Küche erschien mir stumpfer, weniger frisch, weniger scharf, weniger sauer, mit einem Wort: Weniger interessant. Die Berliner Vietnamesen, also der mit diesem Sammelbegriff meist adressierte Imbiss um die Ecke, bestätigte mein Vorurteil, und so bedauerte ich also ein wenig, dass die DDR neben allen ihren anderen Fehlern auch noch ausgerechnet aus Vietnam Vertragsarbeiter hergeholt hatte und nicht aus Thailand, was der Ostberliner Küchenkultur möglicherweise gut getan hatte.

Offenbar habe ich mich aber getäuscht. Ich weiß noch nicht genau, was in Vietnam schief gelaufen ist. Womöglich habe ich immer ausgerechnet da gegessen, wo man nicht so gut kocht, denn die Landesküche habe ich offenbar zu Unrecht als mitteldelikat qualifiziert. Ich muss also noch mindestens ein mal mehr nach Vietnam, und dann muss ich da essen, wo die Köche vom Bahn Xeo Saigon kochen gelernt haben. Bis dahin esse ich weiter in diesem ziemlich charmefrei eingerichteten Miniaturlokal an der Greifswalder Straße und bedaure jedesmal die unzureichende Aufnahmefähigkeit des menschlichen Magens.

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Banh Xeo Saigon, Greifswalder Str. 41, 10405 Berlin. Immer reservieren. Perfekt für Vegetarier und Veganer

Vom Untergang

Ich bin ja nicht so Exzess. Ich arbeite eine echte Vollzeit, ich habe ein kleines Kind, da bin ich selten unterwegs, um mal einen tiefen Blick in Abgründe zu werfen. Wenn ich dann doch mal an Abgründen vorbei komme, weiche ich meistens aus, weil ich am nächsten Morgen doch aufstehen muss. Ich bin – sehen wir den Tatsachen ins Auge – ein ziemlich erlebnisarmer Bürger mit gemäßigten Ansichten über nahezu alles, einem gewissen Hang zur Bequemlichkeit. Ich bin das Juste Milieu.

Natürlich wird Stuckrad-Barres Buch Panikherz vor allem von Leuten wie mir gelesen. Wer kauft und liest in Deutschland sonst auch Bücher. Und weil Stuckrad-Barre auch Jahrgang 1975 ist, bewege ich mich in Panikherz in einer bekannten Welt. Die Achtziger, dieses endlose Bad in lauwarmer Langeweile. Die Neunziger, in denen es dann endlich losgehen sollte, ohne dass genau festgestanden hätte, was es denn eigentlich ist. Nur, dass es größer, lauter, bedeutender sein sollte, als die geordnete Welt unserer Kindheit in der westdeutschen Provinz, das war wohl den meisten von uns klar, die wir Mitte der Neunziger einen Umzugswagen voll Kisten gepackt haben, um irgendwo ein Leben anzufangen, von dem wir vermutlich alle mehr erwartet, als bekommen haben, wie es denn so geht.

Anders als ich hat Stuckrad-Barre die Suche nach Bedeutung ungleich ernster genommen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ausgerechnet im Segment der Musik- und Fernsehunterhaltung das echte Leben zu suchen, aber in Panikherz liest sich das eigentlich alles ganz schlüssig und rund. Warum auch nicht.

Die ersten feinen Risse zeigen sich just dann, als Ende der Neunziger Stuckrad-Barre Erfolg hat. Soloalbum ist ein tolles Buch, ist ein erfolgreiches Buch, auf einmal ist sein Autor ein Star, und ich erinnere mich noch an eine Lesung in einem vollgestopften ziemlich großen Raum, in dem ansonsten Bands auftraten. Ich habe Stuckrad-Barre damals ein bißchen beneidet, nicht weil er dieses Buch geschrieben hatte, sondern weil er überhaupt ein Buch geschrieben und sogar bei einem Verlag untergebracht hatte, während ich andauernd Romane schrieb, die ich dann alle ob mangelnder Qualität wegschmeißen musste.

Dass Erfolg nicht glücklich macht, war schon damals jedem klar. Natürlich macht Erfolg aber auch nicht unglücklich. Er legt nur die Schluchten frei, von denen man vor Eintritt des Erfolgs immer dachte, sie würden sich schließen, wenn erst einmal irgendetwas eintreten würde, was man sich gerade so wünscht. Wenn die Gletscherspalten dann immer noch klaffen: Dann war es eben nicht dieser Erfolg. Dann fehlt etwas anderes. Abnehmen. Rausch. Sex, was auch immer, und so folgt man Stuckrad-Barre ins Innere der Hölle. Dieser Teil des Buches ist sicherlich der stärkste. Stuckrad-Barre gelingen große, groteske Bilder von der Getriebenheit, der Sucht, dem Untergang in Selbstekel, Willenlosigkeit und den vielen Verlusten. Dass er den ganzen Weg abwärts nicht aufhört, genau zu beobachten, und ein präzises Abbild der Welt schafft, deren vorwiegend Berliner Kulissen auch ich gut kenne, würde mein Interesse am Buch auch dann wach halten, wenn nicht schon der Untergang an sich ein Thema wäre, das ein Buch dieses Umfangs trüge.

Dass der schon fast völlig Zerschlagene am Ende von seiner Familie und Udo Lindenberg gerettet wird, erleichtert den Leser und bedient die Erwartungen an eine geschlossene Dramaturgie. Ganz aber, ganz glaube ich nicht an die Geschichte von Höllenfahrt und Errettung, und als ich schließlich im Postbahnhof sitze, und Stuckrad-Barre mager und blass liest, unterhält und witzelt, lache ich zwar, versinke in einer gerührten Nostalgie, und wehre mich doch vergeblich gegen das Gefühl, dass das das Ende der Geschichte noch nicht ist, denn vielleicht gibt es keine Wege zwischen dem Untergang auf der einen und der Gleichgültigkeit auf der anderen Seite, und wir alle müssen wählen, was uns bitterlich fehlt.

Benjamin von Stuckrad-Barre, Panikherz. 2016.