Leben

Journal :: 25.11.2017

Ist ja gut, sage ich und nehme mir fest vor, es nie wieder mit dem geschätzten Gefährten und der Küche Spaniens zu versuchen. Mir hat es in der Bar Txokoa gefallen, aber der J. ist nicht so besonders angetan.

Auf normalen Wein hat der J. keine Lust mehr, seine stinkenden Naturweine will ich wiederum nicht trinken. Wir einigen uns also auf Bier. Das wollen wir aber nicht irgendwo trinken, sondern in der Berliner Berg Brauerei, weil der J. sich da vor einiger Zeit an einem Crowdfunding beteiligt hat und seitdem jeden Tag zwei Bier trinken darf, was er aber, weil die Neukölln Kopfstraße nicht gerade um die Ecke liegt, nur äußerst selten macht.

Es gibt also etwas nachzuholen. Wir trinken das Lager und das IPA. Das Helle und das Wheat. Vor der Berliner Weißen kann ich mit und ohne Himbeere nur warnen, aber über den inzwischen ungewohnten Biermengen werden wir sehr lustig und führen lange Gespräche mit den anderen Leuten an der Bar, die uns vorlallen, dass sie mit alten Fotos handeln oder Jacken machen, und auf der Toilette lerne ich einen französischen Winzer kennen, der abends Bier trinkt, weil er tagsüber mit Wein zu tun hat. Berlin sei incroyable, redet er begeistert auf mich ein, und ich stimme ihm ebenso euphorisch zu. Keine andere Stadt auf Erden, schwöre ich Berlin ewige Treue. Nirgendwo sonst als hier.

Journal :: 24.11.2017

CGN ist knallvoll. Seit Air Berlin pleite ist, ist die Lufthansa gar nicht mehr auszuhalten, und war schon früher an einem Freitagnachmittag ein Flughafen die Hölle, ist das nun vollends der Fall. Missgestimmt sitze ich also am Gate, jeder Platz ist besetzt, und starre in mein Handy.

In Berlin ist derweil die Hölle los. Mann 1 ist nämlich davon überzeugt, Frau 1 habe ein Verhältnis mit Mann 2. Zwar ist Frau 1 nicht seine Frau, sondern die Frau von Mann 3, aber das hindert ihn nicht daran, sich gnadenlos aufzuregen. Vordergründig macht er sich Sorgen um ihren guten Ruf und ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden. In Wirklichkeit ist er einfach obsessiv eifersüchtig und seine eigene Frau gibt ihm zu wenig Anlass, diese Persönlichkeitsseite auszuleben.

Frau 1 regt sich schrecklich auf. Sie hat nämlich keineswegs ein Verhältnis mit Mann 2, aber um Mann 1 zu zeigen, dass es sie nicht im geringsten schert, was er von ihren Verabredungen denkt, verabredet sie sich schnell mit Mann 2 und schickt Mann 1 einen Screenshot des Schriftwechsels auf WA. Mann 1 tobt. Alle Beteiligten schreiben einander Nachrichten auf den unterschiedlichsten Kanälen und beraten sich mit ihren Freunden.

Leider füllt sich das Gate mit immer mehr Menschen. Vermutlich sitzen jetzt schon doppelt so viele Leute mit dreimal so vielen Koffern am Gate wie in das Flugzeug passen, das hoffentlich gleich kommt. Hektisch versuchen die Stewardessen Reisende dazu zu bewegen, freiwillig ihr Handgepäck doch imFrachtraum zu verstauen, aber nun wollen wirklich alle schnell nach Hause, Leute sehen sich scheel von der Seite an und versuchen abzuschätzen, ob die Koffer der anderen nicht doch viel größer sind als die eigenen, und hauen hektisch auf ihren Handys herum, vermutlich um ihr Wochenende zu planen. Vielleicht haben sie aber auch nur ähnlich verwickelte Verhältnisse wie manche Leute, die ich so kenne, und müssen Nachrichten schreiben wie etwa Frau 1 und ihre lieben Freundinnen, deren Ratschläge jedoch betrüblich uneinheitlich ausfallen. Dass auch die lieben Freundinnen von ihren eigene Kalamitäten berichten, bleibt nicht aus. Ich zum Beispiel vermute, an einem chronischen Erschöpfungssyndrom erkrankt zu sein und bekomme beim Googlen die beunruhigendsten Hinweise auf die dahinter stehende Grunderkrankung, aber das will natürlich niemand wissen.

Als der Flug aufgerufen wird, schleppe ich mich mit mehr oder weniger letzter Energie auf meinen Platz. Ich sitze immer auf 8 C. Neben mir sitzt in dem bis auf den letzten Platz besetzten Flugzeug ein älterer Mann mit einem Oberlippenbart und liest eine Zeitschrift über Gartenbau, und kurz, ganz kurz, überkommt mich der Wunsch, auch einmal scheintot auf dem Lande zu leben, unanstrengende, gleichförmige Tage, wunschlose Monotonie mit prächtigen Hortensien, aber dann fällt mir wieder ein, dass es ja nicht an den Kulissen liegt, sondern vermutlich an uns.

 

Journal :: 22.11.2017

Wir sitzen kaum im ICE, da bekommt der F. richtig Hunger. Also nicht so richtigen Hunger, mehr so einen Pawlowschen Eisenbahnhunger, der ihn von der Frage, was er bereits gegessen hat, komplett abstrahiert überfällt, wenn er in einem Zug sitzt.

Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein familiär tradiertes Verhalten. Damals, irgendwann Anfang der Achtziger Jahre, reiste meine Großmutter auch nie ohne eine Tasche voller belegter Brote mit kaltem Braten und Ei, Apfelschnitzen, Frikadellen, Miniportionen Salat in milchig-weißen Plastikschälchen und dicken Stücken Marmorkuchen. Damals reiste man aber auch noch in Abteilen mit Vorhängen davor, störte mit seinem Picknick deswegen niemanden als einzelne kritische Familienmitglieder, meistens den überzeugten Vegetarier Onkel P., und weil fast alle Leute mit solchen Fresspaketen reisten, wirkte unser Fresspaket auch noch gar nicht einmal so arg exzentrisch.

Heute aber sitzen wir im Großraumabteil und das Fresspaket ist, glaube ich, ausgestorben. Um uns herum starren fresspaketlose Geschäftsreisende auf ihre Notebooks, außer dem F. gibt es weit und breit kein anderes Kind, und es ist dermaßen leise, dass die Ausführungen des F. wirklich niemand überhören kann. Der F. spricht immer, außer, wenn er schläft oder isst. Zum Glück isst er ziemlich viel.

Weil der Service auf sich warten lässt, lässt der F. das ganze Abteil an seinen Überlegungen über die Evolution teilhaben. Wir waren letzten Sonntag im Naturkundemuseum, der F. steckt randvoll mit brandneuem Wissen, und sollte jemand der anwesenden Anzugmänner noch nichts über invasive Arten in Australien oder die Ringe des Saturn gewusst haben, so ist das seit Mittwoch Abend jedenfalls radikal anders.

Nach und nach und so kurz vor Wolfsburg wird der F. allerdings immer zappeliger. Es kann nicht sein, dass rund um ihn herum Biere angeschleppt werden und Sandwiches verteilt. Der F. schaut immer dringlicher die Kellnerin an, vor lauter Sehnsucht materialisieren sich schon Butterbrezeln in der trockenen Luft, aber dann kommt sein Essen doch. Eine Pappbox in Form eines Bahnhofs. Ein Teller Nudeln. Ein Tütchen Kompott, eine halbe Packung Kinderschokolade, eine Apfelschorle, Minibrezeln, Puffreis mit Schokolade, ein Malbuch und ein Plastikzug, und bis Hannover kaut der F. mit einer Begeisterung, um die ihn jeder, ausnahmslos jeder der Anzugmänner im Abteil dermaßen heftig beneidet, dass kleine, grüne Wölkchen aus Missgunst durch die schale Luft wabern, um über des F. Kopf lautlos zu zerplatzen.

Journal :: 20.11.2017

Na, ziehe ich FDP-Mitglied J.2 an der Kasse ein bisschen auf. Ihr wollt wohl nicht. Oder euer Chef fand sich flächendeckend plakatiert so schön, dass er das unbedingt noch 2018 ein zweites Mal braucht. Regieren ist halt auch anstrengend, fahre ich fort und sortiere seine und meine Einkäufe ordentlich in zwei Taschen. Schön doof, wenn man aus der Verganegnehit mitgenommen hat, dass Kompromisse direkt vom Teufel kommen, weil man dann am Ende nicht mitmachen kann und sogar neben Jürgen Trittin irgendwie übermäßig leichtfertig aussieht.

Der J.2 schweigt. Ich kenne in keiner Partei so viele Mitglieder wie in der FDP. Dass liegt vermutlich an meiner Profession, auch wenn ich selbst  noch nie liberal gewählt habe. An diesem Abend aber, auf dem Weg nach Hause durch den Abend, mache ich mir dann doch für ein paar Minuten ernsthaft Sorgen, was jetzt passiert, und ob dieser Tag, an dem Koalitionsgespräche schon vor den Koalitionsgesprächen scheitern, vielleicht einmal in einem Geschichtsbuch stehen wird als eine der Stationen zwischen Deutschland als dem Ruhepol Europas und einem der vielen Untergänge unserer warmen, gesicherten Welt.

Journal :: 19.11.2017

Ach, Möhre, denke ich, und schaue meinem Fünfjährigen nach, der im Naturhistorischen Museum wild gestikulierend um ein Modell des Sonnensystems herumwandert und frenetisch auf seinen Freund S. einredet.

Ich beneide Kind F. nicht ganz wenig um sein brennendes Interesse für eigentlich alles. Der F. begeistert sich unterschiedslos für Napoleon und BB-8, Mädchen mit schönen Haaren, die mineralogische Sammlung des Naturkundemuseums und die Frage, wie um alles in der Welt Hitler so böse geworden ist, dass er sogar Kinder einsperren ließ. Dass ich mich für irgendetwas auf Erden mit ähnlicher Intensität interessiert habe, dürfte Jahre her sein, und würde der geschätzte Gefährte morgen unglücklicherweise von einem Meteoriten erschlagen, fiele es mir absehbarer Weise extrem schwer, noch einmal nur ansatzweise so viel Interesse für einen anderen Herrn aufzubringen, wie es für die Aufnahme einer näheren Beziehung erforderlich sein dürfte.

Vielleicht steht jedem Menschen nur ein bestimmtes Maß an Begeisterung zu, und ich habe meins verbraucht, überlege ich, aber so richtig überzeugend klingt die These nicht. Oder die für Euphorie zuständigen Drüsen stellen irgendwann, das wäre dann so eine Art emotionales Klimakterium, die Produktion ein. Oder – und das hoffe ich inständig – es handelt sich ganz schlicht um die betäubenden Auswirkungen einer Mischung aus Erschöpfung und bohrender Langeweile, die mit der Zeit auch wieder verschwinden.

Aber so wie mit fünf wird es nie wieder.

Journal :: 18.11.2017

Laufe ich auf dem Rückweg vom Markt über die Straße, denke ich an die C., steht sie doch auf einmal vor mir. An ihrer Hand läuft der kleine M., nun auch schon wieder drei, plappert in einem fort, unterhält sich beim Bäcker mit Frau A., die alle Kinder im ganzen Viertel kennt, als seine Mutter einen kleinen Gugelhupf kauft, und dann gehen wir zu dritt zu uns.

Sind der J. und der F. doch immer noch im Schlafanzug, mittags um zwölf. Ziehen sich beide schnell an, decken den Tisch, und dann wärme ich die Erbsensuppe vom Markt auf, schneide Wurst in Scheiben, laufen die Kinder hin und her, und der F. baut aus der Verpackung einer Putting Matte, die der J. sich gekauft hat, ein Wikingerschiff mit Drachen und Segel und Steuerrad, während die C. und ich uns so zurückhaltend unterhalten, wie es eben geboten ist, wenn die ganze Zeit zwei schrecklich indiskrete Kinder um einen herumlaufen, die zum Glück nicht im Ansatz verstehen würden, worum es eigentlich geht.

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Überhaupt, die Putting Matte. Eine Putting Matte, für diejenigen, die das auch nicht wissen, ist so eine Art Minigolfplatz in ganz klein für Leute, die richtiges Golf spielen, damit die zu Hause üben können. Ich gebe allerdings Gift darauf, dass die meisten Leute, die sowas kaufen, Häuser haben mit leeren Zimmern und großen Kellern. Trifft auf uns nicht zu, aber die Putting Matte musste es trotzdem sein, sagt der J. Wir werden, sage ich, am Ende alle drei von Golfzubehör erschlagen, aber was soll’s.

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Eigentlich sind wir nachmittags zum Spielen und Brot essen verabredet, aber statt dessen trinken wir bei M. und M. am Nachmittag einfach nur Bier, reden und bestellen schließlich Sushi. Immerhin gibt es diesmal auch schöne Neuigkeiten, aber eigentlich ist das gar nicht nötig, denn bei M. und M. ist es immer so ein bisschen wie mit Familie, bei der ja auch dem schlichten Umstand des Beisammenseins ein eigener Wert zukommt.

Mit Buch ins Bett.

Journal :: 17.11.2017

Ich glaube den ängstlichen Männern, sage ich zum A. beim Frühstück ins Eimsbüttel und trinke meinen Earl Grey. Ich glaube nicht, dass die arglistig versuchen, sich durch gespielte Naivität Privilegien zu sichern. Die haben wirklich keine Ahnung, wie man eine Liebelei anbahnt, wenn man Frauen nicht mehr einfach anfassen darf, aber das hat eigentlich nichts mit Misogynie zu tun, sondern mit einer in Deutschland aus irgendwelchen Gründen nicht besonders weit verbreiteten Kulturtechnik. Die wissen einfach nicht, was man wann sagen soll, wenn einem jemand gefällt. Die haben keine Ahnung, wie lang Blicke morgens um neun sein sollten, und wie lang nachts um drei. Die kennen die Choreographie der unabsichtlichen, der absichtlich unabsichtlichen und der absichtlich absichtlichen Berührungen nicht, und deswegen sind ihre Annäherungen so digital wie ein Kippschalter. An oder aus. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz oder Küssen mit Zunge.

Die anderen, also die, denen es einfach Freude macht, Frauen zu verängstigen oder zu verletzen. Die gibt es auch. Aber die meisten, die jetzt verärgert und ratlos reagieren, sind einfach amouröse Nichtschwimmer.

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Über Frauen und Männer spreche ich auch mit Herrn Kid37, abends im Karoviertel bei Salat mit Lachs und Muscheln. Wann man, wie es im Internet heißt, zu alt ist für sehr junge Frauen, und ich erzähle ein bisschen von der Zeit, als ich selbst eine sehr junge Frau war, damals Ende der Achtziger. In den Texten in den Medien über Männer und Frauen in dieser Zeit wird gerade viel über Macht und Machtmissbrauch gesprochen, aber uns erschien die Liebe damals ungemein verheißungsvoll, wir waren fürchterlich neugierig und spielten mit den bescheidenen Mitteln unserer Kleinstadtkindheit eine wüste Melange französischer Filme nach, die wir uns aus der Stadtbücherei geliehen hatten. Ganze Sommer waren wir Truffaut, Rohmer, Lubitsch en miniature, es war schrecklich abgeschmackt und grauenhaft unterhaltsam, und hätte uns jemand gesagt, dass die Liebe Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse sei, und unsere Spiele nicht schmerzhaft lustig, sondern falsch, hätten wir ihn einfach ausgelacht, aber das waren andere Zeiten.

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„Wie war ich mit 14?“, schreibe ich im ICE an jemanden, der dabei war und sehe sehr, sehr lange den pulsierenden drei Punkten auf dem Handy zu und lächele, als die Antwort kommt, in die Schwärze der Nacht zwischen Hamburg und Berlin und versuche mich an mich zu erinnern, und an ihn und an alle anderen.

Journal :: 15.11.2017

Rechtsreferendare, einige unter Ihnen wissen das, durchlaufen in zwei Jahren mehrere Stationen, unter anderem auch bei der Staatsanwaltschaft. Man kann sich kümmern, dann kommt man irgendwohin, wo es einigermaßen spannend wird, oder man kümmert sich nicht, dann landet man beispielsweise bei dem P.

Der P. ist erst ganz kurz Staatsanwalt, blond, fröhlich und 30, und er klagt im Wesentlichen ein einziges Delikt an. Ansonsten trinkt er mit einem Freund um die Ecke Kaffee, spielt leidenschaftlich gern mit seiner Spielkonsole und geht mittags um die Ecke zu einem chinesischen Restaurant. Ich immer mit, schließlich will ich ausgebildet werden, und tatsächlich entwickele ich sehr schnell erhebliche Fertigkeiten an der Konsole. Wenn wir zusammen Mittag essen, nehme ich jedesmal etwas anderes und überrede P., ab und zu zu anderen Lokalen zu gehen. Widerstrebend kommt er meistens mit. „Man kann doch nicht immer dasselbe essen.“, behaupte ich, aber der P. isst an vier von fünf Tagen Schweinefleisch süß-sauer. Wie man so leben kann, denke ich.

Heute mittag war ich in der Ming Dynastie. Da gehe ich meistens einmal die Woche hin. Manchmal esse ich die M 8, das ist das Huhn Gong Bao. Ohne Erdnüsse. Manchmal nehme ich auch das Mapo Tofu. Wenn ich nicht in die Ming Dynastie gehe, gehe ich zu einem Italiener in der Nähe. Da esse ich das Mittagsmenü, das ist immer gut. Suppe, Pasta, kleines Dessert. Oder zu einem Vietnamesen, da esse ich die Suppe mit Teigtaschen und Glasnudeln oder die Pho mit Tofu. Ganz selten esse ich Burger.

Ab und zu schmeckt eins der Mittagsgerichte anders als sonst, dann fällt mir das auf. Oder Kellner wechseln. Ich weiß ganz genau, wo ich mit Karte zahlen kann und wo es bar sein muss. An welchen Gerichten Knoblauch ist. Manchmal esse ich auch nichts, dann gehe ich abends essen. Ich frühstücke nie.

Gelegentlich, meistens zu unseren Geburtstagen, denke ich an den P., dann schreiben wir uns kurz, und ich frage nach, ob er eigentlich immer noch das Schweinefleisch süß-sauer isst. Dann bejaht er jedesmal, und ich weiß ganz genau, dass man nicht nur so leben kann, sondern dass auch ich im Grunde genau so fertig leben würde, mit Huhn Gong Bao und Pho mit Tofu, und dass das nichts für mich wäre.

Journal :: 12.11.2017

Man reiche mir eine Axt. Es ist Sonntagmorgen, sieben Uhr, und dank des Weckers des J. sitze ich hellwach im Bett und mahle aggressiv mit den Zähnen. Draußen wird es gerade halbwegs hell, der J. gähnt wahnsinnig laut und schlurft, ebenfalls wahnsinnig laut, Richtung Bad. Zu alledem bin ich selbst schuld: Um nicht alle Sonntage meiner näheren Zukunft von elf bis fünf allein mit Kind zu verbringen, habe ich selbst dem J. vorgeschlagen, seiner Leidenschaft für den Golfsport künftig sehr früh morgens nachzugehen und mittags wieder zu erscheinen. Das geht natürlich nur mit Wecker. Beschweren darf ich mich also nicht. Statt dessen ertränke ich meinen unausgeschlafenen Frust in einer Tasse Tee.

Tee könnte ich wieder kaufen, fällt mir ein, und google nach Tees, die ich noch nicht kenne und kaufen könnte.

Als Teetrinker J.2 am Nachmittag auftaucht, komme ich gerade aus dem Museum. Der F. liebt das Deutsche Historische Museum und war geschätzt zehnmal dort und kennt jedes einzelne Exponat. Dank seiner Museumsbesuche hat er sich ein etwas unkindliches Spezialwissen zugelegt, über das ich mich einerseits freue, andererseits fürchte ich mich etwas vor den Reaktionen künftiger Mitschüler, die gute Sportler vermutlich höher schätzen als umfassende Kenntnisse über den Verlauf der Befreiungskriege.

Der inzwischen wieder aufgetauchte J. sitzt in der Bibliothek schätzungsweise vorm Computer und beschäftigt sich mit seinen vollständig digital erfassten Fortschritten im Golfsport. Vielleicht weicht er aber auch nur den aus seiner Sicht langweiligsten Gesprächen ever aus, die der J.2 und ich über sehr, sehr fachliche Themen am Küchentisch führen, während unsere Kinder in maximaler Lautstärke durch die Wohnung toben. Immerhin riecht es überall gut nach Waffeln.

Als die Frau des J.2 irgendwann bei uns erscheint, brechen wir auf in den Park. Nur der J. bleibt zuhause. Es ist dunkel, die Bäume recken ihre Zweige wie schwarze, zerbrechliche Blitze in den Himmel, und die Kinder jagen einander den Bunkerberg hoch. Wir sprechen immer noch über Posten und Politik, Gesetze und Gerüchte, und nun ist es die Frau des J.2, die sich zurückfallen lässt, um nicht auf der Stelle vor Langeweile zu sterben.

Die Kinder sind inzwischen am Ausrasten. Der Jüngste isst nur Süßkartoffeln, die Großen nur Fleisch. Das eine Kind will nur Wasser ohne Kohlensäure, das andere ausschließlich mit, und als zumindest die beiden Großen unter ohrenbetäubendem Geheul in F.’s Zimmer verschwinden, schauen wir uns alle vier dankbar an.

Als der J.2 mit Familie verschwindet, wird es still. Ich friere das restliche Fleisch ein. Der J. macht die Küche. Dann ist es spät. Der Sonntag ist vorbei.

„Bei dir ist es immer schön.“, steht auf meinem Handy.

In Heiliger Mission

Die Berliner Fama ist sich ja generell sehr sicher, dass alle ungeliebten Wahlergebnisse, ach, überhaupt alle Übel dieser Welt, auf dicke, alte, weiße Männer auf dem Lande zurückzuführen sind, die zu viel billiges Bier trinken und nicht richtig lesen können. Diese Leute seien es auch gewesen, die in ihrem Unverstand den Brexit ausgelöst hätten. Ich aber, denken Sie sich an dieser Stelle einen dumpfen, allmählich anschwellenden Trommelwirbel, habe erst kürzlich einen veritablen Brexiteer getroffen, der diesem Bilde krass widerspricht, einen walisischen Diplomaten, der irgendwas mit mittelalterlicher Geschichte und Religion studiert hat, tiefgläubiger Anglokatholik, vernünftig angezogen und mit geschliffenen Umgangsformen, der darauf brennt, dass das Vereinigte Königreich auf der Stelle die Europäische Union verlässt, um fortan in glänzender Einsamkeit zu alter Größe und Schönheit zu finden. Ja, Sie staunen. Ich, zu Gast in einem ebenso kunstliebenden wie -sammelnden Haushalt von Bekannten, staunte auch.

Die neu erworbene Grablegung Christi, die die Hausherrin ihren Freunden und Bekannten vorführen wollte, erwies sich als etwas derb. Aus den Augenwinkeln sah ich die Gastgeber über eine liebliche, handtellergroße Maria Magdalena mit bloßen Füßen dozieren, beschloss, ihnen nicht ins Esszimmer zu einer Flämischen Anbetung zu folgen, lehnte mich ans Klavier und lächelte den Brexiteer freundlich an. Ich bin ziemlich klein, ich lächele also quasi immer und automatisch so von schräg unten nach oben. Sehr konservative Männer mögen das. Der Brexiteer straffte sich also und öffnete den Mund zu einer kleinen Rede. Das Empire also. Seit Ende des Empire gehe alles bergab, bei den ehemals Beherrschten noch mehr als bei den Briten selbst.

So mancher hätte auf der Stelle die ja an und für sich naheliegende Frage aufgeworfen, ob es nicht etwas vermessen ist anzunehmen, die Völker des Commonwealth hätten irgendein Interesse daran, bei der Wiederrichtung eines Empire mitzumachen. Die meisten Leute regieren sich ja doch lieber selbst. Ich aber zählte innerlich bis zehn und trank sehr schnell zwei Glas Rosé, um die folgende Konversation noch mehr zu genießen.

Der Waliser blieb mir nichts schuldig. Die Flämische Anbetung auszulassen, hatte sich voll gelohnt: Im Urlaub läutet der Waliser Glocken in englischen Klöstern. Seine drei Kinder haben fast so irrsinnige Namen wie die sechs von Rees-Mogg. Er dürfte im Laufe seines Lebens mehr Hostien gegessen haben als irgendwer sonst, den ich kenne, und er glaubt an den Teufel. Ja, das ist wirklich wahr.

Ich lächelte und schwieg. Der Brexiteer geriet immer mehr in Fahrt. Das Mittelalter. Die heidnischen Weiten der asiatischen Steppe. Meister Eckhart und die Geburt Europas aus dem Geiste der Mystik. Europa als innerer Widersacher der EU. Kurz vor dem Zustand überschnappender religiöser Ekstase bog Freundin K. um die Ecke und wollte heim.

Zwei Tage später schrieb der Waliser. Normale Leute hätten eine Gesprächsfortsetzung beim Kaffee angeboten. Der Waliser jedoch erbat eine Begleitung zur Messe. Höflich lehnte ich ab und verwies auf den J. und seinen Abscheu vor der katholischen Kirche.

Dies schien den Waliser anzuspornen. Seit mehreren Wochen bemüht sich der Waliser um die Rettung meiner Seele. Die Kurve der für mein Seelenheil bundesweit gesprochenen Gebete ist in den letzten Wochen noch einmal deutlich angestiegen; ich fühle mich auch gleich viel besser als seit Jahren, und nur sehr, sehr weltliche, lästerliche Menschen mit einer überaus verdorbenen Phantasie würden annehmen, dass die Intensität der Bemühungen des Brexiteers um die Rettung meiner Seele möglicherweise nicht vollkommen von rein gottgefälligen Motiven geprägt sein könnte, was dieser natürlich weit von sich weisen würde, so weit ungefähr, wie das Vereinigte Königreich in seiner Vorstellung vom Sündenpfuhle Brüssel entfernt gehört, also sozusagen unendlich.