Leben

Dicker Mann

Es passt zu dem J. und mir als Paar, dass wir uns im Herbst 1995 über Freunde kennengelernt haben, die wir schon damals wechselseitig total unsympathisch fanden, und ich den ganzen Abend über Thomas Mann sprach, den J. nicht leiden kann. Symptomatisch  vielleicht auch, dass ich an dem Abend, an dem wir uns kennenlernten, einen zwei Größen zu großen braunen Shetlandwollpullover trug, den mir mein lieber Freund J.2 geschenkt hatte, wie ich vermuten muss: In feindlicher Willensrichtung gegenüber Dritten.

Angesichts dieser Vorgeschichte ist es kein Wunder, sich häufiger mal zu trennen, denn vielleicht hat ja einer von uns Glück und trifft nochmal jemanden, der Thomas Mann mag oder keine braunen Pullover anhat. Weil wir nach wenigen Stunden diese Hoffnung meistens als vergeblich erkennen, vertragen wir uns meistens aber verhältnismäßig schnell. Gestern beispielsweise haben wir uns zweimal  getrennt und fast sofort wieder vertragen.

Zwischen dem Zerwürfnis und der Versöhnung lagen diesmal nur wenige Stunden, nicht einmal genug, um sich außerhalb Berlins Häuser anzusehen oder zu bewerben. Irgendwann in diesem verhältnismäßig kurzen Zeitraum fielen allerdings fatale Worte: Der J., es ist sozusagen nicht zu fassen, hat tatsächlich klar, eindeutig und bösartig mein Gewicht kritisiert.

Nun ist mir natürlich vollkommen klar, dass das herrschende Schönheitsideal von deutlich schlankeren Frauen als mir verkörpert wird. Auch ich lese Zeitungen und war schon mal auf Instagram. Von seinem ansonsten meistens geschätzten Gefährten kritisiert zu werden, ist aber eine andere Nummer, denn wer soll einen schon optisch okay finden, wenn nicht derjenige, den man geheiratet hat. Und selbst wenn man einen gewissen Verärgerungsaufschlag abzieht: Dieser Moment, meine Damen und Herren, ist der richtige Moment für ein Drama. Stellen Sie sich mich also ungefähr als Godzilla vor. Mit ein bisschen Übergewicht.

Ich bin nervlich vielleicht nicht die allerstabilste. Ich stehe also in der Küche, schon eher ziemlich strapaziert, ringe nach Luft und den richtigen Worten, da kommt unser Kind, der lustige F., des Weges. Der F. nimmt seine Eltern, wie es sich gehört, nur so mittelernst. Was soll man schon von Leuten denken, die so tun, als würden sie Knete essen. Was der F. aber weiß: Harmonie ist wichtig. Der F. verschafft sich also einen blitzschnellen Überblick über die Lage. Er holt tief Luft. Er lässt die Information, Mama sei zu dick, einen Moment lang sacken. Dann öffnet er den Mund, dem prompt die Worte entströmen, Mama solle nicht traurig sein. Er, der F., habe bereits schon einmal mit seinen eigenen Augen einen viel dickeren Menschen gesehen. In Berlin. Es sei ein Mann.

„Mama? Ist alles okay?“

Wie die Wolken ziehen

Liegst du da, zwölf Jahre alt, auf der großen Wiese am See, und schaust in den Himmel. Juni ist’s, der Himmel stählern blau, fast weiß, und das Licht leuchtet jeden Grashalm, jede Pore gleißend aus. Du warst baden, obwohl das Wasser noch so kalt ist, dass außer dir und deinen Freunden T. und N. niemand badet. Jetzt liegst du in deinem nassen Badeanzug auf dem großen, roten Handtuch und lässt dir vom Wind die Haut prickelnd eiskalt und trocken pusten.

Schaust du den Wolken nach. Graue Fetzen am hellen Himmel, die sich langsam auflösen, als könnten auch sie nicht widerstehen.

Was du vom Sommer erwartest? Lange Ausflüge mit dem Rad vielleicht. Übernachten bei Freundinnen im Garten. Zwei Wochen Ferienlager, zwei Wochen Urlaub in Frankreich oder Dänemark mit Familie, tägliches Schwimmen im See und Ausritte weit über Land. Noch bist du daheim.

***

Schaust du wieder nach oben. Tiefblau ist der Himmel, später August, schwer und gelb wie eine vollreife Frucht hängt der Mond überm Meer. Zu dritt liegt ihr auf dem Dach einer alten Garage, 17 bist du und zum Sterben verliebt in den G., der nichts von dir wissen will. Über dir wehen kleine, feste, weiße Wölkchen über den Reetdächern von Kampen, und neben dir sitzt dein Freund J.2, starrt in das dunkle, flirrende Laub des Kirschbaums und dreht an einem Rubikwürfel herum, dessen Felder alle gleich schwarz aussehen, und hört und hört nicht auf. Er hätte gelitten unter deiner Uneindeutigkeit, wird er dir irgendwann viele Jahre später erzählen, aber in Eindeutigkeit warst du immer schon schlecht.

Was du vom kommenden Jahr erwartest? Ein paar Kurzgeschichten willst du schreiben, die mäßig sein werden, aber du bist auf sie stolz. Klare Verhältnisse willst du schaffen, endlich Schluss mit den Unsicherheiten, den Graustufen, dem Leichtsinn und den vielen Fluchten, und weisst vielleicht schon, dass daraus nichts werden wird, nicht dieses Jahr und auch kein anderes. Du bist aus Unruhe gemacht und ziehst mit den Wolken.

***

Etwas ist anders am Himmel, denkst du, und legst den Kopf in den Nacken. Etwas fehlt vielleicht, etwas liegt lange unter der Erde, ihm zu Füßen ein Stein, aber du pustest dir die Spinnweben aus dem Gesicht und schreitest entschlossen voran. 42 bist du und es ist Freitag.

Die Blätter hat der Bauhof schon zusammengefegt, die ganze goldene Pracht, und die Nester hängen schwarz und leer in den Bäumen. Der Himmel scheint sich zurückgezogen zu haben, als sei er heute weiter weg als an anderen Tagen, aber das kann auch am langen Abend liegen, an der Bachmesse in H-Moll in der Philharmonie, oder besser gesagt: An den Moskau Mule danach.

Du hast aufgehört, dir klare Verhältnisse zu wünschen. Du willst nicht einmal mehr irgendwo ankommen, weil du das Ankommen viel schlechter verträgst als das Reisen. Du bist manchmal aus Feuer und oft aus heisser Luft. Du bist so gut wie alles und sein Gegenteil. Bei Nacht kannst du manchmal fliegen, du kannst aus Blut und Knochen bestehen und aus Regen und Wind, und manchmal bist du die Wolken.

Jules et Jim

„Alt und müde.“, sage ich wahrheitsgemäß und versuche gleichzeitig mein Telefon und einen Nagellackpinsel fachgerecht zu balancieren, schiebe mit dem Ellenbogen meine Teetasse etwas weiter auf den Tisch und verabrede mich in zwei Stunden zu einem späten Frühstück in der Konditorei um die Ecke.

Um mich herum ist oder wird gerade alles 40 und lamentiert fürchterlich. Vermutlich hat die eine Hälfte meiner lieben Freunde die Jahre zwischen 15 und 35 mit dermaßen viel Vergnügungen vollgestopft, dass die abnehmende Schlagzahl an Spaß in Zusammenhang mit den mit den Jahren etwas abgestumpften Nerven üble Entzugserscheinungen verursacht. Die andere Hälfte dagegen realisiert gerade, dass der Triebverzicht ihrer Vergangenheit in der Zukunft keinerlei Honorierung erfahren wird, und jammert deswegen auch. Es muss irgendwo Leute geben, die ihr Leben lieben, aber die kennen wir nicht oder sie sprechen nicht mehr mit uns.

Immerhin, vernehme ich zur angegebenen Zeit über einer Kanne Assam, scheint die letzte Generation gelangweilter Bürger ihre Langeweile auch nicht besser bewältigt zu haben. Nehmen wir nur etwa die Tante R. meiner Begleitung, eine Psychotherapeutin aus Münster, welche unweit ihrer Heimatstadt in einem alten Resthof mehrere Jahrzehnte eine Art Seminar- und Meditiationszentrum betrieben hat, in dem Menschen irgendwo in ihrem Innenleben innere Kinder und spirituelle Edelmetalle gefunden haben. Praktischerweise erwies sich das Ganze sogar als ausgesprochen lukrativ.

In sehr frühen Jahren ihres Lebens war die Tante R. einmal mit einem Herrn H. verheiratet, einem Zeitungsredakteur. Das war damals noch ein bürgerlicher Beruf, von dem sich Leute Häuser bauten. Dann war die Tante R. nach einigen Wirren ein paar Jahre mit einem Herrn E. liiert, das ging aber auch in die Brüche. Mehrere Jahrzehnte hatte die Tante R. daraufhin allein gelebt, ihren Resthof regiert, ihre Patienten und irgendwelche jungen Therapeutinnen herumgescheucht und lange Wanderurlaube unternommen, gemeinsam mit irgendwelchen anderen postklimakterischen Damen. Dann aber setzte sich die Tante R. zur Ruhe, die inneren Kinder verließen den Hof, sie kaufte sich eine Finca in Andalusien und las sehr viel.

Irgendwann auf einem Familientreffen – ich glaube, ich war sogar dabei – kam sie auf einmal wieder mit Herrn H. Der war inzwischen ebenfalls Rentner, verdiente sich ein Zubrot als sogenannter Medienberater und sprach nur noch eine krause Mischung aus englisch und deutsch. Man spekulierte schon, er werde wieder bei ihr einziehen, da erschien sie auf einmal auf einer Taufe im weiteren Familienkreise mit Herrn E. Die Familie des Begleiters ist, obschon ausgesprochen protestantisch, einigermaßen hartgesotten in Herzensverwicklungen, zuckte deswegen nicht einmal mit der Wimper und hieß Herrn E. wieder im Familienkreise willkommen.

Als aber im letzten Jahre mein Begleiter selbst einmal im Münsterlande weilte, fuhr er spontan auch bei der Tante R. vorbei und setzte sich in ihre Küche. Die Küche dieser westfälischen Bauernhäuser ist riesig, es gibt einen mannshohen Kamin und an den Wänden hängen gigantische Töpfe und Pfannen früherer Zeiten, in denen man die inneren Kinder von Tante R’s früheren Patienten in einem Stück hätte zubereiten können. Neben dem Kamin jedenfalls saß Herr H.

Herr H. wirkte ganz zuhause. Er las in der taz, welche bei älteren Herren sehr beliebt ist, trank Lapachotee und kochte dem Besuch Kaffee, als die Tür aufging, und herein kamen Herr E. und die Tante. Man wohne, so vernahm der Begleiter, derzeit dort selbdritt.

Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, war das Zusammenleben nur teilweise geprägt von Harmonie. Tante R. gilt als temperamentvoll, Herr H. hat auch nicht mehr alle Latten am Zaun, und Herr E. ist zwar einigermaßen ausgeglichen, aber beim Verhältnis 2:1 hilft das auch nicht mehr weiter. Als der Begleiter auf dem Weg zu Frau und Kindern wieder im Auto saß, war er jedenfalls recht froh, entkommen zu sein. Eine Weile meldete er sich jedenfalls mit gutem Grund nicht mehr bei der Tante.

Erst vor einigen Tagen hörte man erneut von Tante R. und den beiden Herren. Alle drei, so vernimmt die familiäre Fama, befinden sich in Spanien auf der Finca, die man sich, so der Begleiter, allerdings eher als so eine Art schlechtgeheizten Stall vorzustellen habe. Dort indes sei es zu einer erneuten Auseinandersetzung gekommen, die Tante habe ihr Auto bestiegen mit dem Herrn E. an ihrer Seite, der Herr H. sei hinterhergekommen, dann sei die Tante, welche schon immer eine miese Autofahrerin gewesen wäre, vom Wege abgekommen, und nun liege sie mit einem gebrochenen Bein danieder, der Herr E. sei auch ziemlich zerbeult, und der Herr H. wiewohl auch schon 75, müsse beide pflegen.

„Das ist ja entsetzlich trist.“, seufze ich, als wir die Konditorei verlassen. „Ich muss los.“, sagt der Begleiter, welcher gerade den Kindersport seiner Ältesten schwänzt, und winkt nach einem Taxi. „Wir sehen uns Donnerstag.“, verabschiede ich mich und lasse mir von ihm wie immer nach jedem Streit seit über 30 Jahren zum Abschied etwas ins linke Ohr flüstern. Auf dem höre ich nämlich nichts.

Dann gehe ich heim.

Sozusagen Glück gehabt

Sitze ich also – vorletzte Woche vielleicht – mit Freund M. im Sorsi e Morsi, nette Bar im Prenzlauer Berg, um noch so ein wirklich allerletztes Glas auf den Heimweg zu trinken. Draußen schon so ein wenig ungemütlich, drinnen wie immer dunkel und voll und verraucht, Rotwein und Negroni auf den Fisch in der Fischfabrik und das Bier in dieser italienischen Craft Beer Bar in der Prenzlauer Allee.

Sitzt vor uns ein Paar, nein, ein Date eher. Ein etwas reservierter Mann, durchaus soignierter Bürger im Vorbereitungsstadium Ende 20, und ihm gegenüber eine leicht exaltierte Frau, nicht die höhere Tochter, die er mal heiraten wird, sondern eher die Kategorie Mädchen, die zwar schon so irgendwas studieren, aber dann eher nicht so Lektorin bei Hanser werden, sondern eher Sozialarbeiterin mit nebenbei Kellnern.

Sie legt sich mächtig ins Zeug. Sie gestikuliert, sie lacht eine Nuance zu laut, sie schüttelt ihre Haare und schaut ihn herausfordernd an. Er dagegen weicht immer weiter zurück, den Oberkörper leicht zurückgelehnt, und sein Unbehagen steht ihm so sichtbar ins Gesicht geschrieben, dass sie mir fast ein bisschen leid tut, und der M. und ich schauen uns schon als reine Zuschauer der Szenerie peinlich berührt an.

Geschickt wäre es jetzt an ihrer Stelle, das Tempo herunterzufahren oder einfach zu gehen und sich mit jemandem zu verabreden, der auf leicht übersteuerte Leute steht. Statt dessen kippt sie, ob aus Nervosität oder mit Absicht, ihr Wasserglas um und bespritzt ihn schrill lachend mit den feuchten Fingern, was er, so wie er aussieht, nicht einmal bei Frauen schätzen würde, die er wirklich mag. Geniert schaue ich an den beiden vorbei und überlege, ob und wann ich eigentlich genauso peinlich wirke und segne meinen Schöpfer dafür, solche Gelegenheiten auf der Stelle zu vergessen.

Als beide gehen, schauen wir uns an. Auf dem Boden neben ihren Platz glänzt feucht das verschüttete Wasser. Aus diesen beiden wird wohl kein Paar, denke ich und trinke den obligatorischen Limoncello. Nicht mal für die nächsten paar Wochen. Dann stehen wir auf der Straße, die beiden sind nicht mehr zu sehen, und ich bin so dankbar wie selten, verheiratet zu sein, weg vom Markt dieser Eitelkeiten, nicht mehr gezwungen, mich vor fremden Leuten lächerlich zu machen, wenn ich mich melde, oder ständig mein Telefon zu fixieren und ungeduldig darauf zu warten, dass die sich melden, und mir Gedanken zu machen, was irgendwas zu bedeuten hat, was vermutlich überhaupt nichts zu bedeuten hat, über irgendwen mehr als flüchtig nachzudenken, herumzugooglen, was bei ersten, zweiten, dritten, vierten Dates passieren sollte, weil man ja nicht weiß, ob das Date nicht doch mit dieser Erwartungshaltung erscheint, ständig sehr hoffnungsvoll oder sehr enttäuscht zu sein, und verdränge auf dem Weg durch den dunklen Prenzlauer Berg, wie oft ich sehr glücklich war, damals, lachend auf den Wellenkämmen der heiteren Meere, und die Sonne so gleißend, das Salz des Lebens so glitzernd wie nie.

Damals in Polen

Schläfst du schon, frage ich so circa kurz nach zwei, und er tut so, als hätte er nur auf meinen Anruf gewartet. Ich bin all das so müde, fahre ich fort, und dass ich so gern auf der Stelle meine Siebensachen packen und mit dem F. an der Hand einfach davonfahren würde, aber dass das natürlich nicht geht, weil ich 42 bin und nicht 20, und erwachsene Leute nicht einfach ihrem Leben davonlaufen dürfen, um irgendwo an einem Strand mit ihren Freunden zur Gitarre zu singen.

Wie die anderen Leute eigentlich ihr Leben aushalten, fragen wir uns, weil die ja eigentlich so ganz zufrieden wirken, wenn man sie in ihren Anzügen durch Mitte laufen sieht, aber vermutlich sehen wir genauso zufrieden aus, denn komfortabel ist diese Daseinsform ja durchaus. Verlangt einem nichts ab außer Lebenszeit und Seele.

Ob die anderen eigentlich gefunden haben, was sie suchten, und gut damit leben können, dass die Suche zu Ende sein soll und sie nie wieder finden werden, fragen wir uns gegenseitig und haben keine Antwort, wie immer, wenn es wichtig wird, und fangen an zu lachen aus lauter Ratlosigkeit. Erzählen uns das Böseste und Beste des Jahres. Wo wir waren. Was wir gelesen haben. Sehr gutes Essen hier und anderswo. Die schönsten Schuhe, die ich jemals hatte, oh, fast zehn Zentimeter, lackschwarz mit kleinen silbernen Knöpfen. Wie gut es uns damals ging, ohne dass wir das wussten. Und ob wir wohl nochmal wie damals in Polen.

(Wohl nicht.)

Engel in Action

Nehmen wir, sprach also einer der Engel der Verwirrung zu den anderen, eine beliebige junge Dame. Oder nein. Nehmen wir besser so eine Dame in mittleren Jahren, die sind gefühlvoller. Die Dame ist recht schön und ganz blond und sehr schlank mit Tendenz zur Magerkeit.  Setzen wir die Dame in eine Wohnung, schönes Innenstadtviertel, Altbauten, Antiquitäten, ein bisschen Kunst, mehr so Yasmina Reza als Pollesch, das ganze Setting, und legen der Dame ihr Telefon in Reichweite auf den Tisch. Da soll aber niemand anrufen. Den Gatten der Dame setzen wir nicht ihr gegenüber. Für ihn haben wir uns richtig was ausgedacht, ihn setzen wir nämlich auf einen Diwan in einem sehr hübschen Bed and Breakfast irgendwo ziemlich weit weg, Blick aufs Meer, alles sehr malerisch, und um die Handlung so ein bisschen zu befeuern nehmen wir dem Mann die Kleider weg. Weil nackte Leute ganz allein langweilig sind, platzieren wir eine noch viel jüngere Dame als seine Frau gleichfalls auf den Diwan. Aus Gründen der Symmetrie soll diese Dame auch rein gar nichts anhaben.

Aha, sagen die anderen Engel und nicken. 

Die Berliner Dame wird währenddessen immer unruhiger. Lassen wir sie in ihrer Wohnung hin und herlaufen, nervös mit den ordentlich manikürten Nägeln auf die glatten Oberflächen ihrer Möbel klopfen, wir denken an eine Nussbaumanrichte, Wiener Werkstätten, vielleicht lassen wir sie auch grundlos ihr Kind anraunzen, und außerdem könnte sie Telefonate mit ihrem Assistenten im Büro führen, immer so hart am Rande der Hysterie. Davon ruft ihr Mann aber auch nicht an.

Die Ärmste, seufzen die anderen Engel. 

Schließlich – Wochen sind vergangen – sehen wir die inzwischen ziemlich abgemagerte Dame mit bläulichen Schatten unter den Augen hektisch mit ihrem Telefon fuchteln. Ihr Mann war zwar zwischendurch kurz da, jetzt ist er aber wieder weg, und die Dame ruft in immer kürzeren Abständen ihre Mutter, ihren Bruder, ihre mitfühlenden Freundinnen und die lustige, böse Freundin, die jeder hat, an und holt sich Tipps für den Umgang mit dem Abwesenden. Die meisten Tipps sind schlecht bis unbrauchbar, schließlich kann man jemanden, der nicht da ist, schlecht rauswerfen, und außerdem hilft es der Dame überhaupt nicht, mit jemanden, der nicht anruft, Schluss zu machen. Davon ruft er schließlich erst recht nicht mehr an. Die böse Freundin hat dann die rettenden Idee.

Oh nein, stöhnen die anderen Engel und halten sich die Hand vor den Mund. 

Tja, grinst der Engel der Verwirrung, scrollt im Handy der Dame ziemlich weit nach unten, drückt auf einen Namen, der eigentlich auch gar nicht so wichtig ist, lässt die Dame ein bisschen plaudern und flüstert ihr einen Treffpunkt ins Ohr. Und einen Termin. Für die Berliner Engel: Das Soho House.

Setzen wir nun die Dame an einen Tisch, setzen wir einen eigentlich ganz egalen Herrn daneben, lassen wir die Dame täuschend echt lächeln, die beiden einander sich zuneigen, bis sich sehr helles und sehr dunkles Haar berühren, vermischen, wie eine in den Achtzigern einmal sehr moderne Frisur. Den Herrn immer mehr Wein nachbestellen, irgendwann beim Kellner einen Schlüssel ordern, der dann auch kommt, die beiden sich küssen, das Zimmer aufsuchen, zum dem der Schlüssel passt, und dann blenden wir ab. Engel, die wir sind.

Schade, wispern einige der jüngeren Engel und stoßen sich glucksend mit den Ellenbogen an. 

Während dessen lassen wir den Gatten besagter Dame mit einer anderen, ebenso jungen Person sich ganz anderswo auf einem Sofa herumrollen. Lassen wir die mitfühlenden Freundinnen besorgte Warnungen aussprechen, die Mutter von nichts wissen, den Bruder desgleichen, und das Kind in einer ganz anderen Wohnung auf dem Sofa sitzen und angstvoll warten, was nun geschieht.

Das aber, sagt der Engel der Verwirrung, wisse er selbst nicht, denn auch er könne sich nur die Locken raufen und die kleinen, silbernen Hörner kratzen, die zwischen den goldblonden Strähnen verführerisch blitzen.

 

Bademantel

Hand aufs Herz, was haben Sie gerade an? An einem Feiertag mittags um halb eins? Vielleicht waren Sie schon draußen, dann haben Sie vielleicht Jeans an und ein Longsleeve? Oder Sie gehören – wie auch ein mir eng verbundener Herr – zu den Leuten, die  überhaupt immer, sogar am Strand, ein Hemd tragen? Sie könnten den ganzen Tag nichts als Unterwäsche tragen, wie ich es täte, wenn ich in einem einsamen Haus am Ende der Welt herumsäße, oder Sie tragen Jogginghosen, Pyjamas oder Bademäntel. Ich kenne solche Leute, die haben daheim quasi nichts anderes an.

Weil der J. und ich auch zuhause immer voll bekleidet sind, haben wir keine. Brauchen wir ja nicht. Und deswegen besitzt auch der F., das reizende Kind des Hauses, keinen Bademantel, sondern wird nach dem Bad immer sorgfältig frottiert, eingecremt und sodann wieder bekleidet. Weil der J. spezielle Kinderkleidung albern findet, trägt der F. eigentlich genau dasselbe wie er selbst, nur eben in Größe 122. Auch in öffentlichen Schwimmbädern wickele ich den F. in ein großes Handtuch. Der J. besucht solche Institutionen schon aus Prinzip nicht.

Vor zwei Wochen, wir waren in Griechenland, zog der F. deswegen vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben einen Bademantel an, der im Hotelzimmerschrank hing. Der Bademantel war weiß, er war flauschig, er passte dem F. wie angegossen und der F. beschloss, den halben Urlaub im Bademantel zu verbringen. Den Rest des Urlaubs hatte er Badehosen an, nur zum Dinner war er halbwegs normal bekleidet. Den Urlaubsbademantel trug der F., ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, sogar teilweise nachts.

Manche Menschen denken bei Bademänteln noch an Hugh Hefner. Aber dieser Bademantel war weiß. Andere Menschen denken bei Bademänteln an Trump. Aber der hat ja angeblich gar keinen. Ich aber, ich denke bei Bademänteln an Udo Jürgens und Fernsehabende mit meinen Großtanten, und so sitze ich am Ende also auf den Peloponnes, den F. neben mir, mein iPad auf den Knien, und singe mit ihm und Udo Jürgens gemeinsam. Beide – ich nicht – haben schneeweiße Bademäntel an, und jetzt raten Sie einmal, was der F. zum nächsten Semesterabschlusskonzert seiner Musikschule tragen wird.

Du mit fünf

Du kannst nur null und hundert. Du weißt weder, dass es Leute gibt, die für Geld Fußball spielen und verschiedenen miteinander wetteifernden Vereinen angehören. Noch ist Dir klar, dass nicht alle Autos aus derselben Fabrik kommen. Das interessiert Dich nicht, das nimmst Du nicht mal wahr. Dafür hörst Du seit mehreren Monaten am Stück die Hörspiele von „Was ist Was“ und hast Dir dabei ein umfangreiches, ziemlich irritierendes Detailwissen sowohl über naturwissenschaftliche als auch über historische Themen zugelegt, und ich mache mir manchmal ein bisschen Sorgen, ob Deine Grundschullehrerinnen nächstes Jahr sehr genervt sind, wenn Du auf umgehenden Antworten auf Deine Fragen nach dem Tod Sullas oder der Anzahl Roter Riesen im Weltall bestehst. Gestern hast Du drei Stunden in der Ausgrabungsstätte von Olympia am Stück kluggeschissen, und ich habe  mich ernsthaft dabei ertappt, ganz froh zu sein, dass Du kein Mädchen bist, für das die sozialen Kosten skurriler Spezialinteressen deutlich höher wären als für Dich.

***

Im Internet lese ich ständig von Kindern, die erstaunliche Lebensweisheiten von sich geben. Das ist von Dir nicht zu erwarten. Du bist nicht im Ansatz abgeklärt. Für Kindergartenmedaillen aus Plastik oder die Urkunden Deiner Musikschule würdest Du barfuß durch die Wüste gehen, obwohl Du es nicht gern heiß hast. Von den Wahlen zum Gruppensprecher in der Kita und der miesen Amtsperformance der völlig zu Unrecht Gewählten höre ich, bis mir die Ohren bluten. Weil auch Deine Kindergärtnerin Dein steinerweichendes Gejammer nach der verlorenen Wahl nicht mehr ertragen hat, bist Du jetzt der nicht gewählte, aber sehr engagierte Anwesenheitslistenführer der Kindergartengruppe und darfst auf den wöchentlichen Ausflügen die Kleenexbox tragen. Wenn andere Eltern in der Zeitung stehen, schaust Du mich leidend und vorwurfsvoll an. Du bist ein fürchterlicher Hypochonder, das muss ein Erbfehler sein, und hast schreckliche Angst vorm Tod.

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Du schwimmst gern. Du baust gern. Du bastelst gern. In ein paar Jahren wird Dir jemand sagen, dass Du nicht gut malen kannst, dann wirst Du vermutlich aufhören, aber derzeit macht es Dir noch Freude, egal, wie das Ergebnis aussieht. Du machst tatsächlich passable Photos mit einer sinnvollen Bildaufteilung, gut gewählten Motiven, und ab und zu amüsiere ich mich darüber, wie anders ich auf Deinen Bildern aussehe als auf den Bildern, die andere von mir machen. Inzwischen glaube ich, dass das nicht an Deinen technischen Schwächen liegt, sondern dass Du mich so fotografierst, wie Du mich siehst. Noch findest Du mich wunderbar und fehlerlos, und es wird ein wenig hart für mich, wenn Du irgendwann feststellst, dass das nicht stimmt, auch wenn ich weiß, dass das so sein muss und wird.

***

Es ist ein bisschen überraschend, aber Du bist kein Optimist. Du bist ein Skeptiker, Du findest die anderen Kinder auf der Sonnenterrasse erst einmal zu laut, bevor Du dann doch mit ihnen spielst. Du hebst Dir das Beste am Essen immer bis zum Schluss auf. Du bist gesellig, aber oft bist Du über Stunden allein in Deinem Zimmer und keiner darf rein. Woran Du dann wohl denkst? Du unterhältst mehrere Freundeskreise, mit den einen bist Du laut und wild und manchmal ziemlich unangenehm zu anderen Kindern. Mit den anderen bist Du ruhig und freundlich und ziemlich angepasst und spielst UNO oder malst Burgen. Vielleicht bist Du ein Mitwolfheuler, das weiß man noch nicht so genau. Überhaupt weiß man noch nicht, was an Dir die Jahre überdauern wird. Wie Du wohl sein wirst mit 35? Manchen Leute sehen auf Ihren Kinderbildern genauso aus wie 30 Jahre später, also nicht so körperlich, aber sonst. Es wäre nicht das Schlechteste, wenn das auch bei Dir so wäre, aber was auch immer an Dir bei Dir bleibt: Bei mir bleibst Du nicht. Ich werd‘ Dich vermissen.

Lange nicht getrennt

„Aber warum?“, insistiert Kind F. auf der Frühstücksterrasse, stopft sich weitere Pfannkuchen in den Mund und fordert ein ums andere Mal eine vernünftige Erklärung, wieso unter den anderen Eltern seiner Kindergartengruppe gerade der Spaltpilz umgeht, aber das kann ich ihm auch nicht beantworten. Vielleicht langweilen sie sich, auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, wieso Leute sich gleich scheiden lassen, nur weil sie sich langweilen. Langweilt sich nicht jeder normale Mensch, weil das bürgerliche Leben eben recht wenig Überraschungen für jedes halbwegs normal entwickelte Unterhaltungsbedürfnis bereithält?

„Ihr trennt euch aber nie!“, fordert der F. und der geschätzte Gefährte und ich schauen uns leicht betreten an. Nun ja, besagt J.s Blick. Ganz, wie man es nimmt. Denn der J. und ich sind sozusagen die Könige der theatralischen Trennung.

Wir haben uns beispielsweise auf dem Weg von Amsterdam nach Cochem an der Mosel mehrfach getrennt. Wir waren so ungefähr Anfang 20, im Fiat Punto des J. gab es kein Navigationsgerät, und keiner von uns kann Karten lesen. Erst warfen wir uns unsere Unfähigkeiten nur vor, dann beschlossen wir, uns gleich morgen jeweils jemanden zu suchen, der einfach alles besser kann als der jeweils andere, während mein Vater unablässig anrief und fragte, wann wir denn nun eigentlich in dem Hotel erscheinen würden, in dem er seinen Geburtstag zu feiern beschlossen hatte. Als wir endlich da waren, geriet der Trennungsvorsatz aber schon so ein bisschen in Vergessenheit und wurde im Zuge der väterlichen Feierlichkeiten der nächsten Tage schlicht abmoderiert. In Tunis haben wir die Trennung immerhin zwei Tage durchgehalten, in dem knappen halben Jahr in Hannover haben wir, aber das ist eine ziemlich chaotische Geschichte mit mehreren Beteiligten, uns eigentlich alle paar Tage getrennt, aber nur manchmal mit vollem Programm inklusive Rücktausch der Schlüssel. Die Geschichte mit dem Plüschnilpferd, die hier zuerst stand, musste ich auf den besonderen Wunsch eines einzelnen Herrn leider streichen. Erinnern Sie mich bei Gelegenheit an die auch eher abseitige Suche nach dem silbernen Ring.

Meistens haben wir uns schneller wieder vertragen als es selbst Anfang der Nuller Jahre in Berlin gebraucht hätte, um eine neue Wohnung zu finden, deswegen haben wir nur ein knappes Jahr so richtig in getrennten Wohnungen gelebt, allerdings stand der Anschaffung neuer Lebensgefährten der Umstand entgegen, dass wir wechselseitig die Schlüssel hatten und unangemeldet in die jeweils andere Wohnung zu platzen pflegten, um dort Wäsche zu waschen oder ein wenig zu schlafen. Außerdem war des J. Wohnung von innen teilweise komplett verkorkt. Als ich irgendwann feststellte, dass der J. seiner Familie die Trennung sowieso verschwiegen hatte, um seine Oma nicht aufzuregen, zogen wir wieder zusammen und kauften uns von dem ersparten Mietzins noch mehr gutes Essen.

Fragt man den J., dann reagiere ich beispielsweise überaus hartherzig auf seine vielfachen gesundheitlichen Kalamitäten und bin beruflich wie privat ungefähr gleich nervig hyperaktiv. Fragt man mich, so ist des J. Neigung, ausgesprochen lange quasi nichts zu tun, in Verbindung mit äußerster Reizbarkeit in Hinblick auf Benehmen und Beschaffenheit anderer Leute schon eher anstrengend. Wir haben weder über Religion noch über Politik ähnliche Ansichten und nur teilweise dieselben Freunde und finden die merkwürdigen Menschen, mit denen der jeweils andere sich teilweise so umgibt, unangenehm und komisch. Der J. etwa unterhält eine ganze Riege nichtsnutziger inzwischen nicht mehr so junger Männer aus gutem Hause mit schlechten Noten, aber hohen Einkommen, peinlichen Autos und ziemlich bornierten Ansichten. Ich dagegen kenne haufenweise Streber. Immerhin teilen wir dieselben Ansichten über den Wert guter Manieren bei Kindern und Erwachsenen und die Spätromantik in der Musik.

In Konsequenz dieser Vorgeschichte haben wir eine der ausgefeiltesten Trennungsregelungen, die nicht getrennte Paare überhaupt so unterhalten. Wir präferieren das Wechselmodell, dann ist wenigstens ab und zu mal Ruhe. Das alles verraten wir dem F. indes nicht, sondern sagen nur in aller Ruhe: Wir trennen uns nicht.

Ist den Aufwand nicht wert.

(Aus Anlass, aber natürlich nicht in Beantwortung der Fragen von Frau B.)

Denn ich falle

Mir tut seit Tagen alles weh. Kalt ist es auch, denn auf einmal ist es Herbst geworden, und für einen Moment will ich einfach nur nach Hause und mit meinem Vater schwarzen Tee mit Kandis und ganz viel Sahne trinken und getröstet und ein bisschen in den Arm genommen und in Wolldecken gewickelt werden.

Ein paar Meter aber vor mir strahlt durch die Plexiglasbrüstung dieser Bar der Ku’damm, und zwischen Touristen und Mädchen in zu kurzen Kleidern und Sandalen kann man immer kurz sehen, wie tief es runter geht, wenn man fiele. Ich habe Höhenangst, deswegen gehe ich nicht näher zum Rand, auch wenn das schön sein muss, stelle ich mir vor, aber vielleicht kann ich das dann doch nicht und bleibe einen Meter vor der Scheibe einfach stehen und alle lachen mich aus, vor allem Herr L., der spontan mitgekommen ist und den ich nicht besonders gut kenne  und von dem ich deswegen nicht weiß, ob er es ein bisschen albern findet, wenn ausgewachsenen Leute Angst vor Balkonbrüstungen haben.

Sed navigare necesse, ermahne ich mich, rede zu viel, beobachte mich irgendwann beim Verlegenheitslästern über das Aussehen anderer Leute, was gerade ich mir vielleicht einfach verkneifen sollte, und unterdrücke den Wunsch, jetzt einfach mal so ganz schnell hintereinander drei Wodka zu trinken und dann noch einmal zu versuchen, ob ich mich nicht an die Brüstung traue.

Was soll schon passieren, schaue ich durch die offene Tür der Monkey Bar und stelle ich mir vor, wie ich wahlweise entweder ein paar Minuten an der Brüstung stehe, gut festgehalten einen Negroni trinke und wieder ins Warme zurückkomme. Oder aber leichter werde, ganz leicht, meine Füße den Boden verlassen, meine Arme ausgestreckt und ich ein paar Runden um die Gedächtniskirche fliege, zwei Flügel weit ausgebreitet und laut lachend, weil sich das gut anfühlen muss, wenn man es kann.

Dann aber bleibe ich doch, wo ich bin, sage dem Nachthimmel ab, lasse die Drinks unbestellt und die Brüstung den anderen Leuten.