Über öffentliche Angelegenheiten

Kleine Selbstbefragung zu Weihnachten

Dann sitzen Sie also so da, circa vier bis fünf Kinder toben durch die Wohnung, die Gastgeberin verteilt Tee und Kekse, und irgendwann kommt die Rede auf Geschenke, also Spielzeug, und die Mütter und Väter zählen auf, was der Weihnachtsmann (wir sind im heidnischen und deswegen christkindlosen Berlin) nächste Woche den guten Kindern alles bringt. Ein Schminkkopf wird genannt. Eine Kinderkaffeemaschine. Ganz viel Lego. Viel Playmobil. Eine Babypuppe. Auf einmal fällt Ihnen auf, dass das Mädchenspielzeug fast ausnahmslos für das Nachspielen privater Situationen bestimmt ist. Wie das Puppenhaus. Oder der Ministaubsauger. Das Spielzeug für die Jungen bildet dagegen berufliche Situationen ab. Die Feuerwehr, die Müllabfuhr. Sogar der Superheld rettet ja sozusagen beruflich. Zuhause schauen Sie sich den Legokatalog an, den der F. kürzlich mit nach Hause gebracht hat. Tatsächlich sieht man in den Spielwelten für kleine Jungen Männchen, die arbeiten. Sie sind Zugführer oder galaktischer Soldat. Und Frauenfiguren, die als Fee, Prinzessin oder einfach als Hausfrau in bisweilen palastartigen Wohnhäusern leben. Müssen Kinder nicht annehmen, das sei so richtig? Und am Ende wäscht er nur auf Aufforderung ab. Und sie arbeitet ab Kind 1 nur noch halbtags?

(Bildet das Spielzeug für den F. eigentlich gleichermaßen private wie berufliche Situationen ab?)

Etwas später spricht man über Geschlechtsstereotypen. Superhelden und Anna und Elsa werden genannt. Überraschung: Die meisten Anwesenden sind davon überzeugt, dass sie total geschlechtsneutral erziehen. Nur die lieben Kleinen – Schulten werden gezuckt – sortieren sich leider exakt anhand der Rosa-hellblau-Grenze. Anschließend an diese Äußerung sagt dann irgendeine Mutter, die nette K., dass sie als Kind auch ihre Barbiepuppen heiß geliebt habe, und ersichtlich geschadet habe ihr das ja nun nicht.

Ich sehe die K. an. Sie ist Anfang 40, glaube ich, hat irgendwann mal etwas mit Design im Namen studiert und in den letzten Jahren als freie Mitarbeiterin ihrer früheren Firma einzelnen Projekten zugearbeitet. Ich glaube, sie verdient damit so um die 15.000 Euro im Jahr. Ob die frühere Firma sie später wieder nimmt, wenn die beiden Kinder größer sind? Ihr Mann ist jedenfalls beruflich so viel unterwegs, dass er nur selten mal abholt und ganz bestimmt nicht derjenige ist, der mit den Kindern Plätzchen backt, bastelt oder Blockflöte übt. Die Mädchen in ihrem Umkreis lernen also aus der Beobachtung der K. und vieler anderer Frauen, dass Frauen Kinder abholen, Perlenarmbänder auffädeln und zum Kinderarzt gehen. Männer arbeiten in Büros, weil ihre Jobs wichtiger als Perlenarmbänder sind.image

(Erlebt der F. eigentlich die Arbeitsteilung zwischen dem J. und mir auch beim Kochen, Basteln, Kinderarzt als halbwegs hälftig?)

Die K. erzählt mir, dass der kleine B. die Kita verlassen hat. Seine Eltern haben sich im Sommer 2015 getrennt. Die Mutter des B. hatte zuletzt einen Dawanda-Shop mit Patchworkkissen und -kuscheltieren betrieben, aber damit kaum das Material verdient. Weil sie bei ihrer früheren Agentur nie fest angestellt war, konnte sie in diesen Job nicht mehr zurück. Sie hat sich dann fast ein Jahr beworben und schließlich in Düsseldorf etwas gefunden. Es ist wieder eine Werbeagentur, aber an ihren früheren beruflichen Status hat sie nicht wieder anknüpfen können. Sie ist nun Assistenz, das gehe auch besser mit den Kindern. Die betreut nun hauptsächlich ihre Mutter. Alle zwei Wochen lässt der Vater die Kinder einfliegen, dann geht alles, was im Alltag der Kinder nun finanziell nicht mehr möglich ist.

Alle am Tisch bedauern die arme Mutter des B. Niemand stellt ihre Entscheidung in Frage, jahrelang auf selbstgenähte Kissen zu setzen. Alle tun so, als sei quasi jede Tätigkeit gleich zu bewerten, egal, ob man damit genug verdient für ein komfortables Leben. Sicherlich hat das auch etwas damit zu tun, dass man einer Frau am Boden nicht auch noch Vorwürfe machen soll. Aber es gibt einen unsinnigen Glaubenssatz unter Frauen, dass Geld nicht wichtig sei, nichts, über das sich zu sprechen lohne. Das rächt sich oft schon innerhalb einer Beziehung, weil es die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Frau verschiebt. Richtig dicke kommt es aber nach einer Scheidung, wenn aus Mittelschichtmüttern plötzlich Alleinerziehende mit Hartz IV werden, weil entgegen einer offenbar immer noch weit verbreiteten Ansicht Frauen mit Kindern über drei keinen Betreuungsunterhalt mehr bekommen und des Kindesunterhalt (wenn er denn fließt) nicht reicht.

(Reden wir mit dem F. überhaupt über Geld?)

Auf dem Heimweg bin ich mit mir so mittelmäßig zufrieden. Unsere Verteilung von Aufgaben ist ungefähr paritätisch. Das Spielzeug des F. ist aber insgesamt schon eher typisches Jungenspielzeug. Viel Playmobil, viel Lego. Männchen, die arbeiten und eher keine Blumenfeste feiern. Schön wäre es, seine Männchen würden ebenso Feuer löschen wie Rosen pflücken. Beim Basteln und Kochen gibt es eine kleine quantitative Differenz, ungefähr 70 : 30. Bei der Erziehung rund um Geld, Wirtschaft und Wirtschaften stehen wir noch ziemlich am Anfang.

Diese und jene

Ich bin ein Kleinstadtkind. In unserer Kleinstadt gab es nur eine Grundschule, in die gingen alle Kinder. Man hört oft, eine Schule für alle sei super für alle Kinder, weil die Lernschwachen von den -starken lernen, und die Starken von den Schwachen soziale Fähigkeiten erwerben, also anderen helfen und so, aber in Wirklichkeit war nichts davon der Fall. Die meisten Kinder, die auch am Ende der vierten Klasse kaum richtig lesen und schreiben konnten, lernten nämlich schon deswegen nichts von den guten Schülern, die Blockflöte und Schach spielen konnten, weil sie diese Kinder abgrundtief verachteten und über sie – mich eingeschlossen – sofort mit Stöcken und Steinen hergefallen wären, wenn die Lehrerinnen das erlaubt hätten. Die Kinder mit Blockflöten und Einserzeugnisen wiederum lernten kein besseres Sozialverhalten von den Kindern mit Versetzungsschwierigkeiten, weil letztere ihnen wegen eines schwer verständlichen Überlegenheitsgefühls keine Gelegenheit gegeben hätten, ihnen bei den Hausaufgaben oder so zu helfen.

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Nach der vierten Klasse trennten sich die Wege. Ich habe zu den Kindern, die nach der vierten Klasse die Hauptschule besuchten, keinen Kontakt mehr. In den letzten Tage habe ich aber mehrfach an diese Kinder gedacht. Ich glaube nämlich, dass diese Kinder – in der amerikanischen Version natürlich – es waren, die letzte Woche Trump gewählt haben. Woher ich das weiß? Ich habe sie erkannt. Sie waren in der Zeitung abgebildet, wie sie breitbeinig vor ihren Gartenzäunen standen. Ich habe gelesen, dass sie Hispanics im Supermarkt gejagt haben und Frauen angerempelt und beleidigt haben. Ich kenne das nämlich von früher, mein Schulfreund M., der einen leichten Sprachfehler hatte, wurde mal minutenlang zwischen drei dieser grölenden Jungen herumgeschubst. Ich bin Asiatin und wurde deswegen von diesen Jungen grundsätzlich Schlitzi gerufen, und meiner Freundin K. wurde einmal von denselben Jungen die Flöte zerbrochen. Sie wurden jedesmal ermahnt, bestraft und ihre Eltern einbestellt, aber ich kann mich an kein Zeichen der Reue erinnern.

Gerade quellen die Zeitungen über von Artikeln, in denen es heißt, dass die armen, weißen Männer zu wenig Geld hätten und zu wenig Zukunftsaussichten. In diesen Artikeln schwingt immer mit, dass diese Leute dann, wenn sie mehr verdienen würden, nicht jemanden gewählt hätten, der sich bis heute nicht für die Belästigung von Frauen entschuldigt hat und Muslime registrieren lassen will. Außerdem wäre es auch irgendwie verständlich, dass Leute mit zu wenig Geld und zu wenig Anerkennung aggressiv werden.

Es mag sein, dass es auch diese Leute gibt. Es gibt aber auch die Jungen aus meiner Grundschulklasse. Die haben gar nicht in jedem Fall zu wenig Geld. Die sind nicht besonders gebildet, weil sie Eierköpfe verachten. Dafür können manche von ihnen Sachen mit den Händen machen und haben sich damit Einfamilienhäuser und Audis A 6 verdient. Wenn man denen zuhören oder ein bedingungsloses Grundeinkommen gewähren würde, würde sich nichts an ihrer Weltsicht ändern. Die sind nämlich gar nicht weiter rechts als früher. Die haben schon mit sechs, sieben, acht alle verachtet, die ihnen irgendwie anders, feinstofflicher, schwächer, ausländischer oder behinderterer erschienen verachtet. Die hätten uns bespuckt, wenn sie gekonnt hätten. Die kann man nicht bestechen, dass sie wieder demokratisch werden, weil sie es nie waren. Ich weiß nicht, was man mit denen macht. Bis auf weiteres verachte ich deswegen zurück.

Die Dame mit der Waage

Nachdem das AG Tiergarten ein Urteil in Sachen Falsche Verdächtigung gegen Frau Lohfink gefällt hat, geifert das Internet. Manche Männer haben immer schon gewusst, dass Frauen aus schierem Männerhass Vergewaltigungen erfinden. Manche Frauen meinen, dass es Frau Lohfink zum Verhängnis geworden sei, dass sie freizügig auftritt. An der Vergewaltigung hat man hier keinen Zweifel.

Die misogynen Männer interessieren mich nicht. Das ist nicht mein Teil des Internets, das sind Leute, deren schlechter Laune und deren Menschenhass ich nach Möglichkeit ausweichen will. Das Misstrauen gegenüber der Strafjustiz, das in diversen Artikeln von Unterstützerinnen der Frau Lohfink aufscheint, teile ich aber auch nicht.

Zunächst: Ich glaube nicht, dass es Frau Lohfink zum Nachteil gereicht hat, dass sie sexuell aggressiv auftritt. Ich glaube aber, dass die Annahme, die Justiz sei gegenüber freizügigen Frauen ungerecht, vielen Unterstützerinnen den Blick auf die Fakten verstellt. Hier greift offenbar eine Art Überkompensation: Weil es Menschen gibt, die nur „sittsamen“ Frauen sexuelle Selbstbestimmung zugestehen, möchten manche Andere Frauen mit einer offensiv geäußerten Sexualität um so mehr glauben. Das dürfte aber zu ebenso schrägen Ergebnissen führen wie das Gegenteil. Es klingt banal, aber man sollte allen Äußerungen gleich viel Glaubwürdigkeit beimessen, egal, ob sie von Ministern, Metzgern, Prostituierten oder Bischöfen stammen. Und auch wenn es schwer fällt: Man sollte Frau Lohfink ebenso offen oder skeptisch gegenüber stehen wie den beiden Männern, um die es auch geht.

Gemessen an diesem Maßstab sieht es bei Frau Lohfink nun nicht gut aus. Es gibt offenbar weit mehr Videomaterial als die wenigen Sekunden, auf die sich die Vergewaltigungsthese stützt. Diese scheinen den Eindruck sexueller Gewalt nicht zu vermitteln. Auch die offenbar wenige Tage später aufgesuchte Frauenärztin hat ja – entgegen Frau Lohfinks früherer Aussage – keine Gewaltanzeichen gefunden. Wenn in dieser Situation keine physische Gewalt ausgeübt wurde und alles einvernehmlich aussieht, dann kann es natürlich immer noch sein, dass die Gewalt vorher, in Gestalt einer Intoxikation, ausgeübt wurde. Nun hat der Gutachter hierfür keinen Hinweis in Frau Lohfinks Verhalten gefunden. Ihre Unterstützerinnen wenden nun ein, es gebe Substanzen, bei denen Willenlosigkeit eintrete bei anscheinend fröhlichem, aufgekratzten Auftreten und gesteuertem Verhalten inklusive einem Telefonat. Ich verstehe nichts von Drogen. Aber wenn ein Gutachter nichts feststellen kann: Soll ein Gericht denn auf die schiere abstrakte Existenz solcher Substanzen hin verurteilen? Ohne den geringsten Anhaltspunkt, dass diese Droge zum Einsatz gekommen ist? Das erscheint mir reichlich fernliegend.

Gehen wir nun davon aus, dass weder körperliche Gewalt im Spiel war noch Drogen, so wird es schon eng. Angst könnte aber noch eine Rolle spielen. Nach allem, was man weiß,  hatte Frau Lohfink aber keine Angst vor den beiden Männern. Ansonsten hätte sie möglicherweise zwar nicht erkennen lassen, dass ihr die Situation unangenehm war. Sie wäre aber vermutlich nicht länger geblieben, als unbedingt nötig, um unbehelligt die Wohnung zu verlassen. Und sie hätte einem Mann, der ihr Angst macht, weder erneute Treffen offeriert noch liebevolle Nachrichten geschickt.

Dem begegnen Frau Lohfinks Unterstützerinnen mit dem Argument, sexuelle Gewalt sei vielgestaltig. Das glaube ich auch. Ich glaube aber auch, dass die Justiz, um Fehlurteile zu vermeiden, das Verhalten von Beschuldigten und Zeugen auf seine wahrscheinlichen und naheliegenden Motive hin bewerten muss. Und naheliegend ist es eben nicht, dass eine Frau, die aus lauter Angst Geschlechtsverkehr duldet, sich danach verhält, als sei dieser einvernehmlich verlaufen.

Ist eine Vergewaltigung damit weniger wahrscheinlich, als dass keine Vergewaltigung stattgefunden hat, so können die beiden Männer nicht für diese verurteilt werden, sondern nur für die unerlaubte Verbreitung des Filmmaterials. In dieser Beziehung scheint es auch nicht so zu sein, dass einer – wie Frau Wizorek schreibt – nicht belangt würde, sondern der eine geht (wie eben auch Frau Lohfink) gegen einen zuvor ergangenen Strafbefehl vor, der andere hat ihn akzeptiert. Frau Lohfink muss auch nicht deswegen mehr zahlen, weil das Gericht die falsche Verdächtigung verwerflicher finden würde, als die Verbreitung des Filmmaterials. Die Strafjustiz verhängt Tagessätze. Wie hoch ein Tagessatz ist, hängt vom Einkommen ab. Schließlich treffen eine arme Friseurin 300 EURO härter als eine gutverdienende Notarin, die 300 EURO vermutlich gar nicht bemerkt. Frau Lohfink wurde also zu 80 Tagessätzen verurteilt. Der Mann, der seinen Strafbefehl bereits akzeptiert hat, muss 90 Tagessätze zahlen. Das Gericht sah dies also durchaus als schwereren Verstoß an, nur verdient er eben kaum etwas.

Ich kann an dem Urteil entsprechend nichts Verwerfliches finden. Der Geschehensverlauf, den das Gericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, finde ich deutlich wahrscheinlicher als die Version, die Frau Lohfink vorträgt. Was ich aber wirklich ärgerlich finde: Mit dem Lamento, so ein Urteil zeige, dass man Vergewaltigungen nicht anzeigen könne, schadet man denjenigen, die vergewaltigt worden sind. Wenn sich von den Klagen über die angeblich arme Frau Lohfink nun jemand abhalten lässt, zur Polizei zu gehen, dann hätte die ganze Diskussion eine Konsequenz, die sich niemand von uns wünschen sollte.

Versuch’s mal mit Vereinbarkeit

Als ich 1995 Abi machte, hatten die Mädchen auch schon geschätzt einen deutlich besseren Abischnitt als die Jungen. Es wollten auch gar nicht alle Mädchen ausschließlich die Orchideenfächer studieren, die ja gern einmal dafür verantwortlich gemacht werden, wenn Frauen mit 40 zwar einen Doktortitel, aber kein Wohneigentum besitzen. Wir feierten, wir packten die Kombis unserer Eltern voll und fuhren davon.

Zum zwanzigjährigen Abijubiläum 2015 fielen wir uns alle in die Arme und zeigten uns viele Photos.  Wir haben es alle ganz gut getroffen, will mir scheinen. Ein par Tage später aber fiel mir auf, dass ich von den Frauen mit Kind kaum gehört habe, was sie beruflich eigentlich gerade machen. Oder nur so ganz unscharf. Weil ich unendlich neugierig bin, habe ich die Mädchen von damals gegooglet und ein paar Leute gefragt. Die Jungen, jetzt Männer, haben mir ganz genau erzählt, was sie derzeit beruflich machen, da musste ich nicht mehr googlen. Was soll ich sagen: Die Männer sitzen im Durchschnitt mehrere Hierarchiestufen über dem Durchschnitt der Frauen. Und ich schätze, dass sie durchschnittlich auch mindestens doppelt so viel verdienen. Das liegt an langen Phasen, in denen Frauen mit Kind nicht gearbeitet haben. Und an der Teilzeit, die es Frauen schwer macht, Verantwortung übertragen zu bekommen. Und ohne Verantwortung keine Beförderung und weniger Geld. Als mir das bewusst geworden ist, bin ich ziemlich wütend geworden.

Nun könnte man proklamieren, dass das gleichgültig sei. Weil Frauen ja so schlau sind, zu erkennen, was auf Erden wirklich zählt. Kinder zum Beispiel. Und man sich in der „Tretmühle“ ja eh nur für andere verschleißt. Wenn man dieser Lesart folgt, haben Frauen es quasi raus und führen – finanziert durch blöde Leute, die es halt nicht raus haben – ein auf das Wesentliche konzentriertes tolles Leben.

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In Wirklichkeit aber wirken die meisten mir bekannten Mütter weder besonders glücklich, noch besonders entspannt. Weil sie für zu wenig Geld und für zu wenig Anerkennung 20 Stunden in Teilzeit arbeiten. Weil sie Tag für Tag – auch mit Job – ungefähr drei Stunden mehr als Männer Haushalt und Kindern versorgen. Ich kenne Mütter, vor allem in West- und Süddeutschland, die jeden Nachmittag ihre Kinder durch den gesamten Landkreis schaukeln, weil die im Chor singen, Reiten, Tennis und Fußball spielen, Nachhilfe haben und Freunde besuchen. Fast immer besuchen die Mütter die Tage der offenen Tür für Grundschulen, sprechen mit Lehrern, wenn es Probleme gibt, kaufen Kindergeburtstagsgeschenke, dekorieren österlich oder weihnachtlich oder backen Brot, und wenn man sie mal zum Kaffeetrinken trifft, wirken sie ziemlich angestrengt. Manche meiner Freundinnen und Bekannte sind in den letzten Jahren schon optisch ziemlich gealtert und meistens schlecht gelaunt. Manche ähneln nicht mehr so besonders den strahlenden, fröhlichen Mädchen, die ich mal gekannt habe.

Den gleichaltrigen Männern dagegen geht es prima. Ihre Karrieren haben in den letzten fünf Jahren nochmal richtig Fahrt aufgenommen. Die Verabredungen mit den Vorständen, Partnern, Chefärzten und Ressortleitern, alle knapp über 40, kommen interessanterweise immer viel schneller zustande als mit den Frauen, weil die Männer mittags meistens essen gehen, und dann sitzt man ihnen im borchardt, im Desbrosses oder im Bocca die Bacco gegenüber und hört sich ihre Erfolgsgeschichten an. An zu wenig Anerkennung leiden sie jedenfalls nicht.

In meinen Augen spricht diese Situation dafür, dass auch Frauen mehr bezahlt arbeiten. Zum einen steigen dann die Aufstiegschancen, in Positionen anzukommen, in denen man seine Ideen viel besser realisieren kann, als wenn man nicht befördert wird. Das ist sehr befriedigend. Zum anderen verdient man mehr Geld und kann sich mehr Hilfen bei blöden Arbeiten leisten, gut essen gehen, toll reisen und es sich gut gehen lassen. Zum dritten ist es vermutlich nicht nur für mich befriedigender, etwas zu tun, was man gut kann und worauf man sich lange vorbereitet hat. Ich beispielsweise bin ja nicht zufällig Juristin und nicht Kindergärtnerin und auch nicht professionelle Raumpflegekraft, weil ich mich schnell langweile und sehr schlecht putze. Zum vierten meine ich, dass es für die Gesellschaft gut wäre, wenn die weiblichen Talente nicht einfach ungenutzt versickern. Es wäre doch toll, wenn nicht nur die Häuser männlicher Architekten gebaut würden, wenn auch mehr Unternehmen von Frauen verhandelt würden, und wenn auch mehr Frauen in leitenden Positionen in Ministerien Gesetze vorbereiten würde, denn mit einem deutlich größeren Talentpool als heute müsste doch auch die absolute Qualität steigen. Außerdem glaube ich an die Bedeutung von Diversität und vermute, dass es für Rentenkassen und Steueraufkommen toll wäre, wenn mehr Leute einzahlen.

Nun gibt es eine Reihe von Frauen, die meinen, Vereinbarkeit ginge gar nicht. Deswegen wollen sie offenbar, dass der Staat – also der Steuerzahler – dafür aufkommt, dass Mütter sich um Kinder und Haushalt kümmern. Wenn ich mir das praktisch vorstelle, gibt es die bis zu 1.800 EUR Elterngeld dann also vermutlich nicht mehr nur 14 Monate, sondern 36. Oder 72, die Forderungen sind vermutlich nach oben offen.

Doch auch wenn es ein solches Müttergehalt geben würde, wäre das doch nur eine zweit-, ach: drittbeste Lösung. Denn längere Zeiten der Berufslosigkeit führen vermutlich zu noch schlechteren Aussichten, berufliche Träume zu realisieren. In manchen Berufen verändert sich auch alles so schnell, da ist man nach drei Jahren so unfassbar weit raus, da ist ein Jahr das höchste der Gefühle. Die fehlende Anerkennung wird durch ein Müttergehalt vermutlich auch nicht steigen, und zudem – aber das ist Geschmackssache – gibt es kaum etwas weniger Befriedigendes, als den ganzen Tag daheim zu bleiben und Tätigkeiten nachzugehen, die extrem unbefriedigend sind, wie etwa Staubsaugen oder immer wieder „Conni kommt in den Kindergarten“ vorzulesen.

Ich setze also auf mehr Vereinbarkeit und nicht auf den Rückzug. Ich möchte mehr und bessere Kindergärten und echte Ganztagsschulen bis 16.00 Uhr. Ich möchte die volle Absetzbarkeit aller Kinderbetreuungskosten und Kinderkurierdienste, die Kinder zu Vereinen fahren. Ich möchte eine echte Entbürokratisierung, wenn man Putzfrauen und Kindermädchen einstellt. Da sollte es ein Büro im Arbeitsamt geben, wo man hingehen kann, und die regeln das dann alles. Querfinanzieren möchte ich das Ganze durch eine Abschaffung der Pendlerpauschale und des Ehegattensplittings und eine Abschaffung von – dann hoffentlich nicht mehr nötigen – versicherungsfremden Leistungen der Sozialversicherungen.

Ansonsten möchte ich, dass Frauen endlich verhandeln. Mit ihren Männern. Dass Frauen darauf beharren, dass ihr Job ebenso wichtig ist wie seiner, auch wenn sie weniger verdient. Dass Paare die lästigen Termine wie die Vorsorgeuntersuchungen oder den Elternabend paritätisch aufteilen. Dass sie sich nicht damit abspeisen lassen, sein Chef wäre böse, wenn er Elternzeit nimmt oder wegen der U 8 erst um 10.00 erscheint. Ihr Chef ist schließlich auch nicht begeistert, da müssen sich die Männer mehr trauen, die Frauen mehr darauf pochen und auch die Chefs bewegen. Ich würde mir außerdem wünschen, dass Frauen auch einfach mal die Füße stillhalten, wenn das Kind komisch angezogen aussieht oder ein merkwürdiges Geschenk für einen Geburtstag mitbekommt, wie manche Mütter begründen, warum sie sich nicht auf ihren Mann verlassen können. Das werden die ebenso lernen wie ihre Frauen.

Und ich würde mir wünschen, dass Frauen lebhaft, scharf, streitbar darüber diskutieren, wie sie sich Gesellschaft und Familien vorstellen, statt alles unter einer dichten Decke aus Harmonie zu begraben, weil es uns nicht weiterbringt, wenn wir uns nervenschonend versichern, unsere Leben seien alle total okay, wenn das gesellschaftlich und volkswirtschaftlich nicht stimmt. Ansonsten stellt die nächste Generation der Mädchen, die heute Abi machen, in 20 Jahren auch wieder fest, dass die Gesellschaft nicht wirklich weitergekommen ist bei der Verteilung von Geld und Macht.

(Dieser Text bezieht sich auf die hier gesammelten Texte und Frau Ziefle)

Mama Modeste regt sich auf

Die Aktion #Muttertagswunsch regt mich auf. Ich meine ausdrücklich nicht Frau Finke vom Blog Mama arbeitet, die eindrucksvoll zeigt, wie eine tolle Frau mit ihren Lebensplänen hinfallen kann und sich tatkräftig und tapfer am eigenen Schopf aus der Misere zieht. Aber viele der Wünsche, die sich bei Twitter wieder finden, meinen die geschätzten Mitmütter hoffentlich nicht ernst.

Ihr meint doch nicht wirklich, dass jemand in 20 oder 25 Stunden Teilzeit genau so tolle Häuser bauen, Prozesse führen oder regieren kann, wie jemand, der das 40, 50 oder 60 Stunden tut? Die meisten Projekte brauchen nun einmal Zeit. Ihr denkt doch auch nicht im Ernst, dass eine Kollegen als genauso verlässlich geschätzt wird, bei der man nie so ganz genau weiß, ob sie  am Montagmorgen erscheint, oder sich wegen eines kranken Kindes abmeldet. Haltet ihr es denn wirklich für zumutbar, dass dieser Frau genauso wichtige, zeitkritische und verantwortungsvolle Projekte übertragen werden, wie jemandem, der nur ein Zehntel dieser Ausfalltage hat? Wer soll das kompensieren? Und Ihr meint, da soll man als vertretende Kollegin auch noch immer freundlich lächeln? Auch, wenn man selbst den Tisch voll hat und pünktlich los muss? Und glaubt ihr denn in vollem Ernst, dass es richtig ist, jemanden, der nicht oder kaum in die Rentenkasse eingezahlt hat, später genauso viel auszuzahlen, wie jemandem, der jahrzehntelang jeden Morgen zur Arbeit gegangen ist? Ich weiß, Ihr meint, das rechtfertigt sich durch die Erziehung späterer Beitragszahler. Aber wenn ihr euch durchsetzt, wird ja mindestens die Hälfte eurer Kinder sich ebenfalls zu Hause mit Kindererziehung beschäftigen. Gibt es für deren Aufzucht dann weniger Rentenpunkte? Warum soll dafür jemand aufkommen, wenn das volkswirtschaftlich deutlich günstiger in Betreuungseinrichtungen geleistet werden kann? Ihr meint, eine allzeit präsente Mutter kann aber nichts ersetzen? Ganz ehrlich: Wenn ich um fünf in der Kita erscheine, rennt mein Vierjähriger meistens selig hinter eingebildeten Mammuts und Säbelzahntigern her, bastelt merkwürdige Artefakte oder singt. Zum Glück ist er in unserer Prenzelberger Kita damit auch nicht allein. Wenn Ihr alle Eure Teilzeitwünsche umsetzt, wäre er das aber, so dass auch wir faktisch gezwungen wären, früher abzuholen, damit er nicht als letztes Kind einsam auf der Schaukel sitzt, und uns damit beruflich beschneiden.

Im Ernst, meine Damen, so stelle ich mir politische Forderungen nicht vor. Ich habe auch keine Lust, irgendwas für eure Fünfzigerjahreidylle zu bezahlen. Und ich sehe nicht ein, warum ihr jahrelang studiert, um dann doch Brot zu backen und Patchworktiere zu nähen.

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, sieht das deswegen folgendermaßen aus: Ich wünsche mir Betreuungseinrichtungen mit einem hohen Standard, die eine echte Vollzeit bequem möglich machen. Ich wünsche mir, dass Betreuungskosten voll absetzbar sind.  Warum nicht über die Abschaffung der unökologischen Pendlerpauschale finanzieren? Ich wünsche mir weiter, dass Väter und Mütter gleiche Ausfallrisiken haben. Ich habe gehört, in Skandinavien muss die Elternzeit paritätisch geteilt werden. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Etwas ähnliches stelle ich mir für  Zeiten vor, in denen Kinder krank sind. Vielleicht kann man hier paritätisch teilen an denjenigen Tage, an denen Kinder wirklich so krank sind, dass sie einen Elternteil brauchen? Für die lästigen Tage, an denen das Kind quietschfidel, aber mit verklebten Augen oder einem kräftigen Schnupfen durch die Wohnung hüpft, wäre die bessere Absetzbarkeit einer Betreuung daheim oder für sozial schwache eine kommunale  häusliche Tagespflege toll.

Ich wünsche mir weiter, dass das Ehegattensplitting ersatzlos entfällt. Ebenso wünsche ich mir ein Ende der beitragsfreien Mitversicherung von Hausfrauen in der Renten-und Krankenversicherung. Das Hausfrauenmodell, dass viele Frauen nach Ende der Familie Phase ins berufliche Abseits führt, würde so von vornherein vermieden. Wer das dann trotzdem möchte, soll solche Lösungen privat ausgestalten können. Denkbar wäre etwa eine  Versicherung, die der Mann für seine Hausfrau abschließt. Vielleicht sogar ein richtiger und versicherungspflichtiger Beruf? Na klar, das kann nicht jeder. Aber, ganz ehrlich, das gilt für vieles andere im Leben auch. Wer also eine private Haushaltshilfe, Kinder und Heimdekorateurin sucht: Nur zu.

Vielleicht haben wir dann in 20 Jahren solche Muttertagswünsche gar nicht mehr nötig. Und 50% Frauen in Führungspositionen.

Heinz und ich

Der AfD-Anhänger ist also, wie ich gelesen habe, meistens ein Mann. Er ist älter als ich. Er ist ganz gut ausgebildet, aber hat nicht die berufliche Position erreicht, die er sich vorgestellt hat. Er lebt eher in einer Kleinstadt als in Berlin. Er ist verheiratet und hat Kinder, um die sich seine Frau mehr kümmert als er. Das findet er nur natürlich. Er arbeitet Vollzeit, sie arbeitet – vielleicht – Teilzeit, und ich stelle mir nach der natürlich ganz und gar nicht repräsentativen Lektüre von sehr vielen Internetkommentaren und dem im Entwurf kursierenden Wahlprogramm der AfD vor, dass er zeitgenössische Kunst verachtet, selten ins Theater geht, „weil die da ja nur noch rumschreien“, und dass er sein Auto sorgfältig pflegt und seinen Sommerurlaub pauschal bucht. Er spart viel, auch am Essen. Ich stelle mir vor, dass er gern Königsberger Klopse isst, aber auch Salamipizza und vielleicht Bami Goreng. Ich werde ihn Heinz nennen.

Ich habe monatelang versucht, Heinz nicht zu verachten. Ich weiß, dass eine Gesellschaft, die aus sich gegenseitig verachtenden Gruppen besteht, nicht imstande sein wird, Herausforderungen zu bewältigen. Damit meine ich nicht einmal die Flüchtlinge, die im letzten Jahr nach Deutschland gekommen sind und nun erst einmal versorgt und dann integriert werden müssen. Mit der Finanzierung und Unterstützung von Flüchtlingen hat Heinz nämlich überhaupt nichts zu tun, da reicht es schon, wenn er nicht aktiv stört. Ich denke an die zunehmende Automatisierung, die vielleicht nicht mehr Heinz, aber die Lehrlinge in seinem Betrieb vielleicht einmal den Job kosten werden, und wir dann alle einmal sehen müssen, wie wir es schaffen, auch mit wenig Arbeit glücklich zu sein. Ich meine die Künstliche Intelligenz, die vielleicht dazu führen wird, dass Heinz Sohn vielleicht eine Maschine als Vorgesetzten haben wird, und ich meine die Veränderungen in der Arbeitswelt, in der es nicht unwahrscheinlich ist, dass die Tochter von Heinz mehr verdient, als sein Sohn, der sich dann etwas anderes ausdenken müssen, als einfach arbeiten zu gehen, um attraktiv genug für eine Familiengründung zu bleiben. Ich meine auch den Umstand, dass Heinz wie wir alle zu wenig Kinder hat, um in Zukunft noch so zu leben, wie wir heute.

Leider ist es mir nicht gelungen, Heinz als einen ängstlichen, aber im Grunde guten Kerl zu betrachten. Ich denke nämlich, Heinz geht es gar nicht darum, dass er Angst hat, schlechter als Moslems, Schwule oder Frauen behandelt zu werden. Er ist insofern kein Bürger, der besorgt wäre, unverdient zurückzubleiben. Er will, wie er vielgestaltig schreibt, nämlich nicht genauso, sondern besser behandelt werden als diejenigen, die in seinen Augen weniger wert sind als er. Warum er meint, ein wertvollerer Mensch zu sein, hat sich mir auch nach Wochen nicht erschlossen. Wenn Heinz argumentativ nicht weiterkommt, beruft er sich im Internet auf den „gesunden Menschenverstand“. Darunter kann ich mir wiederum nichts vorstellen. Ich denke, er meint die Summe derjenigen Vorurteile, für die es schlechthin keine vernünftige Begründung gibt, die sich in seinen Augen aber richtig anhören. Genaueres weiß ich über Heinz leider nicht, weil Heinz sich auch bei facebook oder twitter nicht mit mir unterhalten möchte. Dabei habe ich ernsthaft versucht, mit Heinz zu diskutieren, aber offenbar bin ich es in Heinz Augen nicht wert, dass man mit mir diskutiert.

Nun nützt es nichts. Heinz verschwindet nicht morgen früh aus dieser Republik, und auch ich bleibe aller Voraussicht nach, wo ich bin. Heinz und ich müssen uns also arrangieren. Im praktischen Leben ist das ziemlich einfach, denn ich wohne ja im Prenzlauer Berg, den Heinz, wie er manchmal bei SpOn schreibt, zutiefst verachtet. Meine Lieblingsrestaurants findet Heinz affig, meine Freunde überspannt, und meinen Job will er garantiert auch nicht haben. In der Montessorikita meines Sohns will er seine Kinder vermutlich auch nicht unterbringen. Im geistigen Luftraum über Deutschland sieht es dagegen schon anders aus. Heinz hält Leute wie mich, das nehme ich amüsiert zur Kenntnis, nämlich für das sogenannte „linksgrüne Establishment“, also für die geistige Mitte der Gesellschaft, mit anderen Worten also für Leute, die eine Geschmackshegemonie ausüben, die Heinz Meinung nach naturgesetzlich eigentlich Leuten wie ihm zusteht.

Ich habe wenig Hoffnungen, dass Heinz in diesem Leben noch einmal freundlicher, aufgeschlossener und entspannter wird. Weil ich Heinz für einen schlechten Menschen und nicht für ein verängstigtes Schaf halte, glaube ich auch nicht, dass es sinnvoll ist, auf ihn zuzugehen und ihm zuzuhören. Heinz wäre erst zufrieden, wenn er obenauf und alle anderen mindestens drei Stufen drunter wären. Wenn man Heinz Wunsch nach Wiederherstellung seiner gesellschaftlichen Vorrangstellung also nicht erfüllen will, bleibt vermutlich nur eins:

Man muss Heinz isolieren. Man muss Heinz lächerlich machen. Man muss klarstellen, dass Heinz mit seinem Wunsch nach Aufwertung zulasten Dritter außerhalb der Gesellschaft steht statt in ihrer Mitte.

Sankt Martins Mantel

Wie kann man, denke ich zwei bis zwölfmal täglich, nur so sein. Wie kann man sich auf die Straße stellen und allen Ernstes behaupten, ausgerechnet die vor Geld platzende Bundesrepublik könne niemanden mehr aufnehmen, denn andernfalls reiche es nicht mehr für diejenigen, die schon hier leben.

Ihr Trottel, denke ich beim Überfliegen der Kommentarspalten. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass auch nur ein Euro mehr bei euch landen würde, wenn von morgen an kein einziger Flüchtling nach Deutschland gelangt. Wie dämlich muss man sein, um nicht zu erkennen, dass der Mangel an Geld und Anerkennung für manche Deutsche nichts mit Ausgaben und Überfluss an anderer Stelle zu tun hat, sondern mit einer bewussten politischen Entscheidung, und wie schlecht und verkommen müssen Leute sein, die ernsthaft lieber andere Menschen im Meer ertrinken oder verelenden lassen möchten, als selbst auch nur ein alte Kleider oder ein bisschen Geld abzugeben oder einen Kuchen für neue Nachbarn zu backen, und wie heuchlerisch und kalt, um über christliche Werte zu sprechen, und nicht an einen römischen Offizier zu denken, der seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilt.

St. Martin and the Beggar, 1836 (oil on canvas)

So, wie ihr seid, denke ich und schaue mir eure Bilder im Internet an. So wie ihr will ich niemals sein, und so eine Welt, wie ihr sie wollt, hat niemand verdient, und dann spende ich euch zum Trotz Geld für die Seerettung, für Medizin, für Familiennachzug und kaufe ein für ein herzliches Willkommen, und wenn es auch nur für fünf Cent Gründe geben könnte, wieso ihr so seid, wie ihr seid: Ich will sie nicht wissen.

(Ihr anderen aber: Bitte gebt. Man liest immer, es sei die Aufgabe des Staates, zu retten und zu schützen. Das mag so sein. Aber vor allem ist es unsere Aufgabe. Ihre und auch meine.)

Ja Zuckerschoten für Jedermann

Ich habe das ganze Konzept nicht verstanden. Ich verstehe nicht, was sich kiffende Pizzaboten davon versprechen, Satiriker für ein paar Cartoons zu erschießen. Den lieben Gott als ein unzweifelhaft höheres Wesen dürfte es nach jeder überhaupt vertretbaren Lesart kalt lassen, was irgendwelche Leute, die Zeitschriften illustrieren, über ihn denken. Und dass die Attentäter selbst ihr Leben durch diese Maßnahme nicht eben verschönert haben, liegt auf der Hand. Ich frage mich auch, ob solche Menschen eigentlich nie über die Restunsicherheit nachdenken, die an der Richtigkeit jeder Glaubenswahrheit zwangsläufig bestehen muss. Selbst wenn ich sehr, sehr, sehr gläubig wäre: Auch eine Unsicherheit von 1% sollte eigentlich ausreichen, um jemanden davon abzuhalten, dermaßen radikale Maßnahmen zu ergreifen.

Ich verstehe aber auch nicht, warum es diese Leute in Dresden auf die Straße treibt. Mir ist doch auch egal, wie die religiösen Vorstellungen meiner Nachbarn aussehen. Oder was sie anhaben, sagen, essen oder tun. Mein Gott, wenn mir die Leute um mich herum nicht gefallen, dann lade ich sie halt nicht zu mir nach Hause ein und mache mich maximal hinter ihrem Rücken bei meinen Freunden über ihre schrecklichen Lebensgewohnheiten  lustig. Wenn es ganz übel kommt, ziehe ich weg, wobei, wenn ich das richtig verstanden habe, sich diese Frage bei den Demonstranten gar nicht stellt. In Sachsen gibt es quasi keine Ausländer.

Ich will nicht ungerecht sein: Ich habe mir sogar Interviews dieser Leute angehört, in denen einige der Befragten fürchterlich lamentiert haben, wie schlecht es ihnen gehe. Da fragt man sich doch aber auch, wieso sie sich nicht die deutsche Sozialpolitik, sondern irgendwelche armen Flüchtlinge vorknöpfen, die selbst nichts haben.

Ganz generell weiß ich nicht, warum alle diese Leute – die mit den Waffen und die mit den bösen Worten – sich nicht mehr um sich und weniger um andere kümmern können. Warum sie glauben, das gute Leben beginne, wenn alle anderen Leute sich ihren Vorstellungen anpassen, statt so unterschiedlich zu leben, wie es jedem einzelnen gerade gefällt. Warum sie nicht, statt fruchtlos bis neidzerfressen über andere Leute nachzudenken, ihre Tage mit Tätigkeiten füllen, die glücklicher machen. Wie einen Garten anlegen, backen, eine Holzhütte für die Kinder bauen oder mit geschlossenen Augen allein  den Messias dirigieren. Das Klavierspiel zu erlernen, ein Bild zu malen, oder auf einen Berg zu steigen, oder was auch immer die Leute wirklich freut und befriedigt.

Das Leben sei nicht gut zu diesen Menschen, liest und hört man immer, und ganz sicher kommen eine ganze Menge Frustrationen zusammen, bis einer so böse und bitter wird, dass er anderen Leuten, die ihm nichts getan haben, alles Schlechte wünscht oder antut. Doch selbst in der größten Tristesse, in einem schmutzigen, verfallenden Hochhaus, ohne Job und ohne Aussichten gibt es doch Äpfel und Brot, Gespräche und Freundschaft, Gedichte aus der Stadtbücherei, Musik aus dem Internet und das reine, schlichte Glück, da zu sein, lebendig, so frei wie kein anderes Tier.

(Aber ich weiß: Ich hab‘ gut reden.)

Man wundert sich

Man wundert sich. Man wundert sich sehr. Und ich wundere mich auch.

Am meisten wundere ich mich, dass andere Leute offenbar nur Menschen kennen, die denken wie sie selbst. Wie machen die das? Ich schätze mal, die meisten meiner engen Freunde wählen grün, weil sie – wie ich auch – ökologische Themen wichtig finden und gesellschaftspolitisch die Interessen von Frauen, Migranten oder Kindern aus kleinen Verhältnissen besonders verbesserungsbedürftig und -würdig finden. Ich kenne aber auch gar nicht so wenig Leute, die liberal oder konservativ wählen oder sogar Mitglied einer bürgerlichen Partei geworden sind. Ich weiß gar nicht, was man macht, um solche Bekanntschaften zu vermeiden. Man kommt doch irgendwo her. Mein ältester Freund und Tanzstundenpartner etwa ist Mitglied der FDP. Der wohnt heute einen Kilometer entfernt von mir ebenfalls in Berlin und arbeitet für eine Unternehmensberatung. Mein Tischherr vom Abiball ist der CSU beigetreten. Notar in Oberfranken. Und mein Schulschwarm ist Professor in Süddeutschland, alter Herr einer katholischen Verbindung. Mitglied einer Vertriebenenorganisation, Berater der unsäglichen Preussischen Treuhand, die Pommern wiederhaben will. Ich will gar nicht wissen, was der letzten Sonntag gewählt hat.  Dass ich als Berliner Juristin viele Juristen kenne, die sicherlich CDU gewählt haben oder teilweise auch direkt im Berliner Betrieb fürs bürgerliche Parteienspektrum arbeiten, versteht sich vermutlich von selbst.

Anders als Frau Nuf meint, sind die meisten meiner konservativen Freunde und Bekannte alles andere als unaufgeklärt. Das sind zum Teil sehr kluge, sehr illusionslose Menschen, die nicht über weniger kritisches Bewusstsein verfügen als Linke oder Linksliberale. Sie finden nur andere Fragen wichtig. Dass die CDU in der Spähaffäre keine gute Figur gemacht hat, sehen die meisten bürgerlich Konservativen genauso. Ich kenne auch niemanden, der das Betreuungsgeld wirklich toll fand. Auch die Wählerin der CDU ist in der Regel – wie etwa eine gute Freundin von mir, die für die Fraktion arbeitet – eine (zumindest in Teilzeit) berufstätige Mutter mit mehr Interesse an der Ausstattung der Kita (nicht: am kostenlosen Kitaplatz) als an 100 Euro fürs Sparschwein. Was meine Bekannten mit CDU oder FDP-Parteibuch aber vom Grün- oder gar Links- oder Piratenwähler unterscheidet: Andere Themen sind ihnen deutlich wichtiger.

Zum einen hätte, so meint man auf dieser Seite des politischen Spektrums, die CDU nicht viel falsch gemacht. Es geht der Bundesrepublik – und damit auch den meisten Menschen, die hier wohnen – besser als anderen EU-Mitgliedstaaten. Die Finanz- und Europapolitik gilt als verlässlich und bewährt. Das ist wichtig, wenn man ein bißchen Vermögen hat. Und in diesem Punkt traut man der SPD nicht so recht über den Weg. Zum zweiten misstraut man Rot-Grün in Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik. In vieler Augen war da etwas sehr viel von Wohltaten zugunsten von Leuten die Rede, die man auf dieser Seite des politischen Spektrums nicht schätzt. Zum dritten subsumieren viele Menschen unter „Freiheit“ viel weniger die Freiheit, nicht überwacht zu werden, sondern viel eher die Freiheit, einzustellen, wen man will (also ohne Quote) oder zu wirtschaften, wie man will (also ohne Mietpreisrestriktionen bei Neuvermietungen oder strengere Umweltauflagen). Insofern meine ich: Auch wenn der bei wirres oder Frau Nuf zitierte Bauer aus der Rhön noch so gut aufgeklärt würde, würde er vermutlich immer noch eher die Abbildung seines Hauses bei google dulden als die Abschaffung des Ehegattensplittings oder die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der in der Bundesrepublik ja schon bei verhältnismäßig übersichtlichen Einkommen greift.

Hinzu kommt noch etwas anderes. Es gibt in der Bundesrepublik bis heute recht klar voneinander abgegrenzte Milieus. Wir verkörpern eins. Die großstädtischen, verhältnismäßig gebildeten und relativ gut verdienenden Menschen mittleren Alters. Wir halten uns für das Leitmilieu, weil die Leitmedien von Menschen geschrieben werden, die uns relativ ähnlich sind. Der J. und ich merken das immer wieder, wenn wir die ZEIT lesen und vor allem im Magazin exakt unser Berlin auftaucht. Unsere Cafés, die Restaurants, die Ausstellungen, die Spielplätze, auf denen der F. spielt, Gegenstände, die wir kaufen, Gewohnheiten, die wir haben. Wir sind aber nicht Deutschland. Es gibt zum einen die kleinen Leute. Um die wollen sich die linken Parteien kümmern. Es gibt zum anderen aber auch die überkommenen bürgerlichen Milieus. Den Hals-Nasen-Ohrenarzt in Mettmann, der jeden Samstag Tennis spielt. Die geschiedene Gymnasiallehrerin in Verden. Den Unternehmer aus Rastatt, der Gartenmöbel fertigt und im Amateurquartett Bratsche spielt. Den Abteilungsleiter der Stadtwerke in Andernach. Die waren einmal das Leitmilieu. Zumindest fühlten sie sich so. Die alte Republik, die Bonner Republik, wurde von diesen Leuten getragen. In den Romanen dieser Jahre der Walser, Grass und Frisch tauchten diese Leute auf, ihre Befindlichkeiten, ihre Wünsche, ihre ganze Welt. In den letzten zwanzig Jahren hat dieses Milieu einen empfindlichen Bedeutungsverlust durchgemacht. Das Zentrum ist jetzt woanders.

Es ist nicht unverständlich, dass dieser Bedeutungsverlust die Leute schmerzt. Wer ist schon gern auf einmal provinziell und – zumindest in der medialen Wiederspiegelung – ein bisschen lächerlich. Auch deswegen gibt es eine breite Strömung, die an das Bestehende, das Alte, die untergegangene Bonner  Republik anknüpft und die CDU wählt, weil sie ihr – trotz aller Brüche – am ehesten die Kontinuität ihrer Welt zu verkörpern scheint. Das ist nicht verwunderlich. Und wenn es den anderen Parteien nicht gelingt, mit anderen Themen und anderen Personen diesem Marginalisierungsgefühl abzuhelfen, dann wird man sich vielleicht noch ziemlich oft wundern.

Anders

Immerhin liest man jetzt nicht mehr so viel von diesen „Parallelgesellschaften“, die im Sprachgebrauch von Rassisten mit Abitur den Umstand umschreiben, dass Leute, die nach Deutschland einwandern, meistens ein paar Jahre brauchen, bis sie Karnevalsvereinen beitreten und Bausparverträge abschließen. Ich war von diesen Artikeln immer so ein bisschen genervt, denn ich finde das eigentlich ziemlich normal und habe keine Lust, die ganze Zeit davon zu hören, wenn ich Zeitung lese. Bei denjenigen, die von den Parallelgesellschaften sprachen, wirkte die Verschiedenartigkeit von Leuten verschiedener Herkunft nämlich immer ganz und gar nicht normal, denn in der Gedankenwelt dieser Menschen ist Konformität ein ausgesprochen hochgehaltenes Gut.

Nicht so ganz verstanden habe ich zudem, warum diese Menschen Parallelgesellschaften eigentlich nur auf Gruppen von Leuten beziehen, deren Großeltern nicht in den Grenzen Deutschlands von 1937 geboren sind, aber auf der anderen Seite nicht mit der Wimper zucken, wenn sie drei S-Bahnstationen weiter auf Parallelgesellschaften stoßen, bei denen man glatt hintenüberfällt, wenn man mal drüber nachdenkt. Also beispielsweise ich heute in der Schwimmhalle an der S-Bahn Landsberger Allee. Das ist eigentlich nur 15 Minuten Fußmarsch weg, aber – die Berliner werden mir zustimmen – ganz ausgesprochen woanders. Orte, an denen mehr als 50% der Anwesenden tätowiert sind, suche ich an sich nämlich selten auf. Auch Ausrufe wie „Meiki, komm mal zu mich hin!“, stammen eindeutig aus einer Parallelgesellschaft, in der ich nicht Mitglied bin.

Oder neulich im Flugzeug. Ich hatte das Hotel nämlich im Internet gebucht, und dann festgestellt, dass es pauschal nur halb so teuer war wie direkt gebucht oder über HRS oder so. Außerdem war der Flug schon drin. Was ich nicht bedacht hatte: Anscheinend fliegt – außer uns Sparfüchsen eben – kein normaler Mensch heute noch pauschal in Urlaub, und so saßen wir in einer Maschine der Lufthansatochter Condor zwischen lauter Leuten, deren Zugehörigkeit zu einer Parellelgesellschaft auf eine fast schon lächerliche Weise auf der Hand lag. Auch über diese Parallelgellschaft ist mir wenig bekannt. Fest steht allerdings, das man in dieser 20 kg mehr wiegt als woanders und Printmuster auf T-Shirts mag. Männer, die Mitglied dieser Parallelgesellschaft sind, tragen übrigens gern Kleidung mit der Aufschrift Camp David.

Im Hotel sind wir dann auf eine weitere Parallelgesellschaft getroffen. Diesmal absichtlich. Der geschätzte Gefährte ist nämlich mit einem Paar befreundet, dessen männlicher Teil in der Türkei Niederlassungsleiter für eine Waffenfirma geworden ist und dann stilecht mit blonder Frau und Kind im schneeweißen SUV im Hotel vorfuhr. Seine Welt sieht der meinen vermutlich sogar ziemlich ähnlich, zumindest auf den ersten Blick, aber bei genauerer Betrachtung sind die Unterschiede auch nicht kleiner als die zwischen uns und den Leuten, die nach einer Landung im Flugzeug klatschen, oder denen, die so ein ganz und gar handgefilztes Waldorfleben führen: Parallelgesellschaften, wohin man schaut. Meine Mutter etwa. Die Putzfrau. Oder der Typ, der morgens immer um 8.15 vor der Bäckerei Zessin über die Straße schlurft, um um 8.17 in immer demselben Abfalleimer nach Pfandflaschen zu graben.

Ich finde das großartig. Zumindest finde ich das lustig. Bisweilen wünsche ich mir, mehr über diese Existenzen zu erfahren, zum Beispiel aus Blogs. Aber wie diese Leute, die Parallelgesellschaften beklagen, mit dieser unglaublichen Diversität klarkommen: Das wüsste ich schon recht gern. Aber sie werden es mir kaum verraten.