Die RAF-Ausstellung öffnete ihre Tore. Frierend und ein bißchen gespannt stand ich in der Schlange, plauderte ein bißchen mit den Umstehenden, und hielt Ausschau nach den Freunden, die zur vereinbarten Zeit angekommen sein mussten. Meine Nachbarn in der Schlange spöttelten ein bißchen über den naiven Idealismus des Milieus, aus dem einige aufgebrochen waren, die Bundesrepublik der Siebziger und Achtziger auf den Rücken einiger toter Wirtschaftsbosse umzuwälzen. Ein blutiger Kindergeburtstag müsse das gewesen sein, war man sich einig. Mit schnellen Autos und Frauen, die zum Teil schön gewesen sein mussten, Banken zu überfallen, alte Männer totzuschießen, und zu glauben, die Welt würde besser auf diese Weise. – Über die bessere Welt sprach man nicht in dieser Schlange auf der nächtlichen Auguststraße. Der Traum einer besseren Welt ist sehr, sehr weit weg.
Belächelt wird der Glaube an eine bessere, sanfte und gerechte Welt auch an jenen Tischen, an denen ich bisweilen eingeladen bin. Die Gemüsestreifen in der Thai-Style Suppe stammen aus der Bio-Company oder vom Kollwitzmarkt, Ökologie wird großgeschrieben, und nicht nur ich führe ein Karteileichenleben bei amnesty international. Die Mehrheit am Tisch wird ihr Kreuz im September bei den Grünen machen, der eine oder andere wird die CDU wählen, und auch die FDP hat ihre Anhänger: Liberale mit leicht unterschiedlichen Akzenten verlieren einige wohlgesetzte Worte über die Reform der WTO und Politik als Kommunikationsproblem. Dass die Macht der Gewerkschaften zu recht ihrem Ende zuginge, bedarf hier ebenso wenig der Diskussion wie die leise Verachtung der Sozialdemokratie, die zwischen Rotwein und Schokolade durch den Raum wabert.
Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Neokonservatismus verfehlt angesichts dieses gesellschaftlichen Mainstreams ein wenig die Realität: Niemand der Leute, die mit mir an den Bars der Stadt ihren Wein trinken, will mit einer neoliberalen Brechstange die Republik reformieren. Das Primat der Arbeits- und Sozialpolitik stößt vielmehr auf ein leicht erschöpftes Desinteresse. Es möge, so hört man ein wenig gequält, die Politik sich doch einmal wieder mit anderen Dingen beschäftigen. Galt die Politik noch vor zwanzig Jahren, glaubt man meinem Vater, als ein hochinteressantes Spielfeld, so hat diese Faszination einer bisweilen wortreichen Gleichgültigkeit Platz gemacht: Man erwartet nichts mehr vom Staat.
Die Zeit der Utopien ist vorbei.
so lange sich leute deines kalibers noch auf diesem niveau mit diesem thema auseinandersetzen, meine gute, ist es noch nicht zu spät. es wird schlimmer kommen. sonst wüsste man ja nicht, wann es anfängt, besser zu werden.
Die untergegangenen Utopisten
Frei nach Brecht: Gegenlied dazu. Es ist schon eine Weile her,
da kam Inge Viett in meine alte Stammkneipe und erzählte Schwänke
aus ihrem Leben. Die Anwesenden gehörten teils zu meiner alten Szene,
Autonome und Ex-Autonome in den Dreißigern, teils waren die ganz
jungen Spunde dabei, politisierte Punks und Attac-Jugendliche. Alles
in allem Ein Publikum, wie es sich regelmäßig auf dieses Kneipen-Diskussionsrunden
trifft, und dazu das übliche Einheitsoutfit: Carhartt-Klamotten, viel Leder,
so es die Temperatur noch erlaubt, Springerstiefel, DrMartens, Chucks, einige Leute
auch malerisch zerlumpt, wobei diese Zerlumptheit durchgestylt ist wie ein Designstudio.
Vor mir sitzt eine Riege Frauen, die erkennbar nicht in die Szene hineingehört.
Altersmäßig Ende 40 bis Mitte 50, alle recht gut aussehend, zwei sogar ausgesprochen
schön, alle sehr gepflegt angezogen, adrett, wirken sie wie Fremdkörper. Als die
Diskussion losgeht, beteiligen sie sich lebhaft, und einige Dinge fallen auf: So gediegen
und gebildet, auch bürgerlich gesettelt diese Frauen wirken, der Jargon ist auffällig.
Sie sagen nie „Die Bullen“, auch nicht „Die Polizei“, sie sprechen auch nicht von
„Staatsmacht“ oder „Kapitalisten“, sondern sie sagen „Die Pigs“.
Und sie wollen von Inge Viett alle möglichen Details wissen, die den Rest des Auditoriums
verwirren. Ich glaube, hier sitzt gerade ein Teil der Bewegung 2. Juni im Raum
zusammen, biografisch offensichtlich in der bürgerlichen Normalität angekommen,
ebenso offensichtlich geistig nah bei den alten Wurzeln.
Irgendwann erreicht die Diskussion eine Intimität, die mich dazu bringt, zu gehen.
Viele der grünschnabellinken Adabeis bleiben, weil ihnen dafür das Gespür fehlt.
REPLY:
Ich habe keinen Zweifel daran, dass die linke Szene für viele Beteiligte eine wichtige Lebensphase war. Darum geht es mir aber nicht. Mir fällt immer wieder auf, wie sehr das Ausmaß an Leidenschaft und Utopie abgesunken ist, ganz so, als hätte das 20. Jahrhrundert den Vorrat an politischer Energie ein wenig verbraucht. Dass linke Politik derzeit ohnehin als nicht sonderlich sexy gilt, hat sicherlich auch etwas mit einem Generationenwechsel zu tun, und vermutlich ist der politische Pragmatismus eine vernünftige Sache. Dass auf der einen Seite die Rebellion nichts an ästhetischer Ausstrahlung verloren hat, die politischen Inhalte aber kaum auf Anklang oder auch nur Aufmerksamkeit stoßen, ist eine Beobachtung, die ich nicht nur in meinem Umfeld mache, sondern auch medial. – ich kenne fast nur Liberale, die unterschiedliche Parteien wählen. Menschen, die sich einen anderen Staat wünschen, kenne ich so gut wie gar nicht. Auffällig ist überdies, dass trotz der starken Medienpräsenz von Wirtschafts- und Sozialthemen in meinem Umfeld die Wirtschafts- und insbesondere Arbeitsmarktpolitik auf wenig Interesse stößt. Die Rolle des Staates als Bezugspunkt scheint sich tatsächlich tiefgreifend geändert zu haben.
REPLY:
Ob die reine Beschäftigung irgendetwas bewegt, wage ich stark zu bezweifeln. Ich würde mich als einen sehr wenig politischen Menschen betrachten, das Verschwinden der politischen Utopien ist eher etwas, was mir auffällt, und worüber ich bisweilen nachdenke. Ob es sich um eine gute, heilsame Ernüchterung handelt, oder der Rückzug aus der Politik Platz schafft für wenig wünschenswerte Phänomene kann ich nicht beurteilen. Man sollte aber diesen Paradigmenwechsel im Nachdenken über den Staat nicht unterschätzen, vielleicht stehen wir erst am Anfang eines Trends.
REPLY:
Das ist wohl eine Frage der sozialen Lage. Ich selbst lebe nun in geordneten
Verhältnissen und habe einen sicheren und ordentlich bezahlten Job als
Führungskraft, aber ein Großteil meines Bekanntenkreises kräpelt im Hartz IV-
Bereich herum oder ist kurz davor, und die reden überhaupt nur über die
soziale Lage und haben eine ungeheure Wut im Bauch. Mein fast achtzigjähriger
Vater empfindet gegenüber unserer politischen Elite blanken Hass und kam schon
mal mit Sprüchen wie „MG auf Dreibein mit Dauerfeuer durch den Bundestag
schwenken würde einige Probleme lösen“.
Insofern weiß ich nicht, ob das, was Du da schilderst, für eine bestimmte Schicht
gilt oder verallgemeinerbar ist. Dass ich von einer Außenseiterposition her
die Dinge sehe, ist mir klar. Bevor ich Anfang des neuen Jahrhunderts meinen
jetzigen Beruf startete und damit aus materieller Notwendigkeit mit meiner
bisherigen Biografie brach, kannte ich fast nur Leute, die sich einen anderen Staat
wünschen.
„Mir fällt immer wieder auf…
… wie sehr das Ausmaß an Leidenschaft und Utopie abgesunken ist…“
Mir auch.
Vor allem auch beim Blick auf die Kulturszene…
Die künstliche Trennung von Politik und Gesellschaft ist eine gefährliche Sache, weil sich dann niemand mehr wirklich verantwortlich fühlt.
Auch das scheinbar Private hat Konsequenzen im Außen. Wir sind die Gesellschaft. Politik ist, was wir tun – oder lassen.
Und spätestens dann geht es nicht mehr nur um die so dringend benötigten Utopien und Visionen, sondern vielmehr darum, (von ihnen beflügelt) etwas ganz konkret anders zu machen – und sei es auch nur in der eigenen Um- und Mitwelt.
Das ist übrigens auch die Hauptmotivation, weswegen ich mich immer wieder auf obskure kleine Bühnen schwinge und mir die Seele aus dem Leib singe… ich will nämlich nicht „nur spielen“, sondern meine es ernst. Will berühren. Nachdenklich machen. Meine Leidenschaft teilen.
Das ist allerdings langwierige Knochenarbeit, in einer Zeit, wo Comedy und Kommerz sich den Löwenanteil des Kuchens teilen.
Umso schöner ist es, auf Menschen wie Dich zu stoßen, die denken und fühlen und ihr heißes Blut nicht künstlich cool machen!
Irgendwo hat Herr Baudrillard mal diesen schoenen-traurigen Satz geschrieben, dass die Epoche der „harten“ Philosophien vorbei sei. Man sei in das Zeitalter der „weichen“ Philosophien uebergegangen, usw.
Wobei ich weder Nostalgie fuer das eine, noch Utopismus fuer das andere verspuere.
Marx z.B. wird ja immer absichtlich „falsch“ gelesen, wenn es gilt die Welt zu verbessern. Als Antwort auf Proudhon’s ‚Philosophie der Armut‘ hat er damals seinen Trademark Chiasmus eingebracht: ‚Die Armut der Philosophie‘.
Das waren noch Zeiten.
(edit: semantics)
REPLY:
Wenn Du Baudrillards Hauptwerk „Der symbolische Tausch
und der Tod“ liest, wirst Du feststellen, wie „hart“ dieser
Philosoph selber ist und wie sehr er in Marx und Freud verwurzelt
ist. Ende der 80er wurde Baudrillard zum Modephilosophen
der Postmodernen und bekennenden Yuppies, aber das dürfte
eher daran liegen, dass die ihn nicht begriffen haben – was auch
nicht so leicht ist, denn wir leben in einem allodoxen Simulacrum
(So schriebt Baudrillard in seinen Schwerwerken).
REPLY:
Herr Che,
ich les den Herrn B. da wohl anders, inkl. symbolischer Tausch. Ist aber zu ausufernd, diese Diskussion und ich bin ja eigentlich schon AFK.
Wie kann ich uebrigens einen Kommentar auf einen anderen Kommentar verfassen? Seh ich mal wieder eine Tick-Box nicht?Option gefunden.
REPLY:
Nun, er hat ja auch in Oublier Foucault zum Bruch
mit der strukturalistischen Philosophie aufgerufen, insofern
ist er zwiespältig und zweischneidig, aber Du hast recht:
Die Auseinandersetzung ist zu sperrig für dieses Blogg.
REPLY:
Nein, nein, toben Sie sich nur aus. Ich sehe es ja mit einiger Irritation, dass es hier eigentlich nur dann hoch hergeht, wenn die Themen des Tages eher im Verhältnis zwischen Herren und Damen zu verorten sind, und sich zu literarischen pp. Beiträgen kaum jemand äußern mag.
Für eine wirklich ernsthafte Beschäftigung mit Philosophie habe ich allerdings leider keinen Kopf, und kenne von Baudrillard entsprechend zu wenig, um mich öffentlich über sein Verhältnis zu Marx äußern zu wollen, von dem ich auch nicht viel gelesen und noch weniger verstanden habe. Mir will indes scheinen, dass zwischen der Zeichenhaftigkeit der Welt und dem Desinteresse an ihrer Veränderung durchaus direkte Verbindungslinien bestehen könnten.
REPLY:
Vielleicht ist das so, weil beim Verhältnis zwischen Damen und Herren jeder leicht dazu neigt, zu glauben dazu etwas beitragen zu können, während das bei den literarischen Texten anders aussehen mag, und die Scheu, daraufhin „etwas Dummes“ zu sagen, womöglich größer ist. Ich glaube aber, dass diese Texte genauso gelesen werden wie die anderen. Oder haben Sie den Eindruck, Ihre Leserschaft klickt dann sofort weg?
Ähnlich ist das übrigens auch bei „sperrigeren“ Themen, da sagt auch keiner etwas oder erst nach langer Zeit. (Hoffen wir einmal, dass das keine „mercy comments“ 😉 sind.)
REPLY:
Das Problem ist: Um Baudrillards „Der symbolische Tausch
und der Tod“ verstehen zu können, muss man Marx, Freud
und eigentlich auch Foucault gelesen haben. Ich tue mich
schwer damit, auf einer solchen Grundlage bloggen zu wollen,
zumal Baudrillards Werk echt schwere Kost ixt. Da liest sich
ja selbst die Dialektik der Aufklärung flott gegen!
REPLY:
Herr Che, also wirklich. Herr B. ist doch nicht schwere Kost. Schreiben kann der. Lustig ist das. Und absichtlich skandaloes.
Freud, Nietzsche, Marx sollten wirklch alle mal gelesen haben.(autsch). Foucault ferner liefen.Kafka hat uebrigens immer lauthals gelacht, wenn er sein Zeuchs vorlas. Aber ich mag auch die anderen von Herrn B. lieber, will sagen ‚Cool Killer‘, ‚Transparenz d. Boesen‘ o. ‚Amerika‘.
So. Nun noch einmal schlafen und dann in Flieger rein und dann am woanders am Wasser sein.
REPLY:
Als wir den gelesen haben (so um 1986), hatten wir ein Wörterbuch der
Philosophie und eines der ethnologischen Terminologie neben uns liegen,
um das überhaupt verstehen zu können, und dabei hatte unsere
Arbeitsgruppe mehrere Wochen Pierre Bourdieu hinter sich.
REPLY:
Herr (?) Gheist, Sie fanden die Lektüre von Baudrillard wirklich lustig? Unter lustig stelle ich mir in meiner ganzen intellektuellenOberflächlichkeit ja gemeinhin etwas anderes vor, aber so amüsiert sich halt jeder wie er mag. – Ich bin ja auch in geistiger Hinsicht ein wenig faul, und suhle mich lieber in gefälligen Gefilden, so man mich denn lässt.
REPLY:
Das Ernstmeinen ist ja ohnehin ein wenig aus der Mode gekommen. Zwar wird alle paar Jahre öffentlich das Ende der Ironie ausgerufen, aber irgendwie wird nie was draus. – Dass Politik und Gesellschaft nicht getrennt gedacht werden können, ist klar, der Rückzug des Politischen meint vor diesem Hintergrund natürlich lediglich den Rückzug des Politischen als bewusster Lebens- und Gesellschaftsgestaltung.
REPLY:
Der Philosoph
Eine schöne Sammlung französischer Musik von der wunderbaren Gastgeberin dieses Bloggs hörend, was mir als die Einzige angemessene Musikkulisse erscheint (danke, Modeste!), möchte ich hierzu doch noch mal umfangreich Stellung nehmen. Natürlich ist Baudrillard provokant und beißend ironisch. Aber um verstehen zu können, was er meint, muss man den Zusammenhang kennen, in dem er argumentiert – fast alles von ihm bezieht sich nämlich auf jeweils gerade aktuelle politische Debatten oder philosophische Diskurse in Frankreich. Wenn er etwa schreibt „vergesst foucault“, muss man sich mit dem Werk dieses bedeutenden französischen Philosophen auseinandergesetzt haben, um überhaupt begreifebn zu können, was Baudrillard meint. Wir haben ihn damals kontextualisiert gelesen, d.h. die Autoren und Debatten, an denen er sich abgearbeitet hat, einbezogen, und das wird dann schon sehr komplex. Bei der Lektüre philosophischer Werke geht es nicht anders, man kann das nicht wie einen Roman lesen, sondern muss sich zuerst in den Diskurs einarbeiten. Engels Anti-Dühring versteht nur,wer die antisemitische Theorie Dührings kennt, und die Dialektik der Aufklärung kann nur begreifen, wer vorher Marx, die Odyssee, de Sade, Nietzsche und Freuds Totem und Tabu gelesen hat. Baudrillard ist ein Schüler des extrem linken Philosophen und Situationisten Mesrine, der solche Dinge von sich gegeben hat: „Früher haben die Philosophen bisweilen Wege aufgezeigt, die zur Revolution oder gesellschaftlichen Verönderung führten. Heute sehen solche Leute ihre Züge nicht einmal mehr davonfahren.“ „Alle sind unfrei unter der Behauptung, frei zu sein. Freiheitsberaubung wird als organisierts Vergnügen geliefert.“ Mesrine begründete die Lehre von der spektakulären Handelsökonomie. Diese besagt, dass die kapitalistische Wertschöpfung, um weiter wachsen zu können, ihre Produkte ständig vernichten muss. Unter diesem Aspekt teilen sich Kriege, Modetrends und Werbekampagnen die gleiche Aufgabe, und jedes Werbeangebot sei die versteckte Androhung der Zwangsarbeit. Mesrine nimmt den Potlatsch, eine Opferhandlung bestimmter Indianerstämme, bei der regelmäßig gezielt Werte vernichtet werden, als Matrix für das, was in unserer längst jedweder ökonomischen Vernunft entwachsenen Warengesellschaft passiert, und erkärt, angesichts des erwirtschafteten Reichtums und der immer schnelleren Produktionszyklen wäre die einzig moralisch haltbare und effiziente Form der Distribution von Waren Sperrmüllabfuhr. Auf diesem Gedankengut basierend, entwickelte Baudrillard in Der symbolische Tausch und der Tod ein Szenario, in dem alle Menschen dermaßen von sozialen Codes und über diese vermitteleten geheimen Manipulationen gesteuert weden, dass die Freiheit gar nicht mehr denkbar ist. Für Baudrillard haben wir nicht mehr Autonomie als die Verkabelten bei Welt am Draht oder Matrix, und verglichen damit ist die ja schon sehr pessimistische Dialektik der Aufklärung fast fröhlich. Wenn Baudrillard andererseits feststellt, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, bezieht er sich damit auf Voltaire, der in Candide mit dieser Behauptung („Du lebst in der besten aller möglichen Welten, die Baronin ist die beste aller möglichen Baroninnen, das Schloss des Barons ist das beste aller möglichen Schlösser“) die Borniertheit des Ancien Régime beißend auf die Schippe nimmt, und er meint damit nichts weiter, als dass die Aufklärung gescheitert sei und wir uns heute wieder in der gleichen Tyrannei befinden wie zur Zeit des Absolutismus. Die ironische Umgehensweise damit ist etwas sehr Französisches; auf der gleichen Linie liegt es, das der linksradikale Anwalt Jaques Vergés Barbie verteidigt hat und Saddam Hussein verteidigt, um die Gesellschaft anzugreifen: Die Welt selbst ist so verkommen, dass sie diese Bestien hervorgebracht hat, dieser Widerspruch wäre eigentlich nur durch Aufhebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufzuheben.
Kein schwerer Stoff, ja? Ich würde sagen, so richtig heavy…
Desinteresse. Desinteresse, weil die Multioptionsgesellschaft (“ Immer mehr Möglichkeiten und immer weniger Gewissheiten“. Peter Gross) keinen Raum lässt für stringentes, engagiertes Handeln. Klar, der Lauch in der Thaisuppe muss vom Ökobauer sein. Aber auf das zweimonatliche Billigflugwochende möchte man auch nicht verzichten, da wird die Ökologie zur Nebensache. Solidarität zeigt man heute mit bunten Bändern am Handgelenk. Sehr elegant und ohne dass es den eigenen Rhythmus durcheinander bringt. Dass die Bänder in zwei chinesischen Fabriken hergestellt werden, in denen unsäglich schlechte Arbeitsbedingungen herrschen, ist auch nebensächlich. Im Internet weltweit shoppen ist Bürgerrecht. Dass die preiswerten Versandkosten mit Löhnen knapp über dem Existenzminimum für die Angestellten der Paketdienste erkauft werden, interessiert nur am Rande und ist kein Grund der einen davon abhält, sisch über den miesen Service der Paketboten aufzuregen, die im übrigen keine Chance haben von ihrem kümmerlichen Lohn jemals eine CD in Australien sich zu ordern.
Das könnte man noch seitenweise weiterführen. Man kann den gesellschaftlichen Mainstream beklagen, aber es wird sich nichts ändern, solange man Teil dieses Mainstreams ist indem man sich daraus die Teile rauspickt, die zur eigenen Selbstverwirklichung taugen.
Die globalisierte, kommerzialisierte und auf Effizienz getrimmte Welt ist ein Angebot mit Suchtcharakter. Ausser Nord-Korea sind dem wohl fast alle Staaten der Welt verfallen. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Sozialstaatsforderungen linker Parteien im Grunde nur darauf zielen, die eigene Teilhabe an dem „Suchtstoff“ durch Umverteilung zu sichern.
@ Che: Na ja. Man muß nicht unbedingt wissen, wie das Essen gekocht wird, um es zu genießen. So wie Sie Baudrillard angehen, kann man jedes andere literarische Werk lesen – kontextualisiert, dekonstruierend, kanonisierend-historisch-kritisch oder nach irgendwelchen -ismen aus dem interpretatorischen Werkzeugkasten. Drei, vier Semester Kunstgeschichte geben auch jedem Museumsbesuch mehr Würze – eine Eintrittskarte ist das aber nicht (und führt auch oft auf falsche Wege).
„Zugangsfreiheit“ zu Kunst und Philosophie sind für mich entscheidende Kriterien, denn Postulate wie „lesen Sie erstmal X und Y und sein Hauptwerk Z, ehe Sie mitreden“ führen schnell zu vom „Herrschaftswissen der Belesenheit“ gelenkten rigiden Diskursen. (Ich sage das jetzt zugespitzt, der Kürze wegen. Natürlich kenne ich die Freuden des hermeneutischen Prinzips und sehe auch die Gefahren von „Beliebigkeit“ und „Oberflächlichkeit“ etc.)
Sicherlich ist ein gedankenstrenges philosophisches Werk kein Roman, aber auch dort offenbart textimmanentes close reading viel Raum für Entdeckungen. Und Spaß. „Cool Killer“ ist doch nun wirklich ein Hort amüsanter Beobachtungen und Überlegungen.
REPLY:
Nein, Kid, so war das gar nicht gemeint. Ich habe nur geschildert, wie ich
selber Der symbolische Tausch und der Tod gelesen habe; ein Gesetz aufzustellen,
wie an solche Bücher herangegangen werden soll, liegt mir fern, wie mir
überhaupt Gesetze fern liegen. Ich kenne, außer einigen Zeitschriftenartikeln,
von Baudrillard nur dieses Werk, Vergesst Foucault und seine Einlassungen zum
11.September 2001, kann also, was Cool Killer oder Amerika angeht, nicht mitreden.
Der symbolische Tausch und der Tod aber halte ich für ein philosophisches Großwerk in
der Dimension von Kritik der reinen Vernunft, Das Kapital, Das Unbehagen in der
Kultur, Dialektik der Aufklärung und Prinzip Hoffnung. Und ich glaube, wer nicht
systematisch wie etwa die beschriebene kontextualisierte Herangehensweise sich mit
so einem Buch beschäftigt, versteht es nicht wirklich. Was auch nicht tragisch ist, die
wahrhaft komplexen Werke erschließen sich ja erst nach mehrmaliger Lektüre.
Was mich wirklich stört, ist etwas Anderes: So von 1988 bis etwa 2000 war Baudrillard
für den akademischen Teil des deutschen Yuppietums ein Modephilosoph, so wie für die
gleiche Klientel die sogenannte „Neue Sinnlichkeit“, d.h. die Multiple Choice Kombination
BDSM, Dark Romantik bis an die Grenze zur Nekrophilie oder bewusst gelebte Keuschheit
das angesagte Spektrum an Sexualverhalten war und es dazu einen passenden Dresscode
(Armani, Gucci, Versace, Prada, Escada, Daniel Hechter) gab, bei dem es nicht mehr wie
vorher um den Schnitt, sondern um den Markennamen ging. Dass einer der
tiefgründigsten Kritiker unserer Gesellschaft, ja aller Gesellschaften, ausgerechnet von
den blasiertesten und prinzipienlostesten aller denkbaren Mitglieder aller denkbaren
Gesellschaften mit Begeisterung gelesen wird, weil er sich ihrem tieferen Begreifen
verschließt, hat mich zur Hälfte amüsiert und zur Hälfte geärgert, und deswegen neige
ich zu einem gewissen Rigorismus, wenn jemand Baudrillard nur von seiner lustigen
Seite sieht. Andererseits teile ich Gheists Standpunkt zu Kafka, den witzig zu finden uns
bedeutungschwernistümelnde Studienräte austreuben wollten.
REPLY:
Aber Che – nun lass´ den Leuten doch ihr privates Plaisir. Ob sich einer nun in Prada der Keuschheit ergibt oder in adidas der Ausschweifung, möge doch gleichgültig sein. Ob mit dem von Dir beschriebenen Habitus tatsächlich zwingend eine blasierte und prinzipienlose Haltung verbunden sein muss, leuchtet mir – auch aus eigener akademischer Erfahrung – nicht unbedingt ein.
REPLY:
Machen können die, was sie wollen. Ich habe in der New Economy und auch
unter einem ganz bestimmten Typ von Journalisten (in Frankfurter Börsenkreisen
soll das noch schlimmer sein, wurde mir aus berufenem Mund berichtet) kennengelernt,
wo diese Kombinationen: Eine bestimmte Kleidung – Zeitgeistphilosophen – bestimmte
sexuelle Laster oder Verhaltensweisen oder die Behauptung, diese zu haben – Accesoires
sind, die eine bestimmte soziale Zugehörigkeit und Hackordnung festlegen.
Schau einfach den Film American Psycho, dann wird deutlich, was ich meine.
REPLY:
Herr Che, Sie haben recht.
REPLY:
Hallo gheist, zurück vom Strand? Wie war es? 🙂