Nach wie vor liegt weit im Osten Europas die Kleinstadt Brody, in der Joseph Roth 1894 geboren wurde, und ist doch gleichwohl untergegangen: Eine jener bröckelnden Schattenstädte der Donaumonarchie, die – im südlichen Polen und in der Ukraine gelegen – im verwaschenen Gelb mancher Amtsgebäude, in verwitterten Grabsteinen und sinkenden Herrenhäusern ein Andenken jener Zeit bewahren, der Roth entstammte, und die er neu und schöner erfand, um ihr geschminktes Abbild wie in Bernstein zu konservieren: Den ländlichen Adel Österreichs in der Schlichtheit und Treue der Freiherrn Trotta, die Sehnsucht nach dem Meer, die den Korallenhändler Nissen Piczenik adelt und letztlich verdirbt, weil es doch die weichen Stellen sind, an denen wir verfaulen. Die einsame Liebe in den Feldern, die bunten Röcke der Frauen, das Wogen der Felder – all das überglänzt und veredelt mit jenem warmen, goldenen Licht des glücklichen Traumes, das die Schlechtigkeit und Kleinlichkeit, die derbe Gier und den Suff der Bauern in der Schankstube nicht unterschlägt, aber mit einem weichen, schmelzenden Timbre versieht:
Sehnsuchtsorte hat Roth erschaffen, und hat jenes Brody doch schon vor der Matura verlassen, um westwärts zu wandern, immer weiter Richtung Westen, Lemberg, Wien, Berlin – einmal durch den Kontinent, weniger geographisch als auf jener geistigen Landkarte, um sich im verfeinerten, nervösen, unendlich filigranen Paris der Dreißiger schließlich totzutrinken als das Abbild jenes Österreichs, das er selber erfunden hat, auf dass es verwechselt würde mit jenem Ort, vor dessen Realität er geflüchtet war, lange bevor es an Kopf und Kragen ging.
Auch in den Romane Roths wird geflüchtet, was das Zeug hält: man flieht vor der Russischen Armee, man flieht vor der eigenen Vergangenheit, vor dem eigenen Schicksal, flieht aus Sehnsucht ans Meer, und landet oft bloß in jenen kleinen, abgewetzten Hotels, irgendwo zwischen dem Hotel Savoy an der Russischen Grenze und jenen Hotels in der großen Stadt Paris, die die schäbigen Provisorien der Heimatlosen sind, Rastplätze auf dem Wege zu jenen Gräbern, die kein Stein mehr deckt. Schauplätze von Abwesenheiten.
Hinfällig ist das Personal der Romane Roths, ermüdet von den Eindrücken und Anstrengungen eines Lebens, die auf eine oft gesteigerte Empfindungsfähigkeit treffen, die kein Ventil mehr in Aktivitäten findet: Die Liebe ist ein schwarzer, hoffnungsloser Ort, der weich und warm nur in der Sehnsucht scheint, um sich aufzulösen, greift man nach den Sternen. Familie als Ort der Geborgenheit gibt es nicht, einsam ist man, die Heimat ist verlassen und verloren, und getrieben von einer aus den Fugen geratenen Zeit wehen die weichen Helden des Roth´schen Kosmos durch ein Europa, das unter den Stößen dieser ersten Nachkriegszeit bebt und zittert. So überflüssig wie er war niemand in der Welt, heißt es vom Franz Tunda, der auf der Flucht ohne Ende zwischen Zentralasien und Russland, Wien und Paris einhergeweht kommt, 1927, und so erweist sich mancher Held Roths als ein nutzloser Mensch im bürgerlichen Sinne. Indes ist es ist nicht böser Wille, nicht das Fehlen von Begabung, sondern ein Zuviel, ein Zuviel an Phantasie, an Imaginationsfähigkeit, die die Helden dieses Kosmos ihren Nachbarn voraus haben, die das Meer nicht lieben, keiner fremden Frau verfallen, wie der Stationschef Fallmerayer, und überhaupt nicht jene überempfindlichen Nerven haben, die zu stark ausschlagen, um das ruhige Gemüt dessen hervorzubringen, der sich einrichtet in seiner Welt und mit Gott und den Menschen nicht hadern muss.
Nach Paris wie Franz Tunda, wie den Trinker Andreas, verschlägt es auch Roth selber. Berlin hat sich verschlossen in diesen Jahren, Wien ist das Wien nicht mehr der frühen Zwanziger, und jenes Wien schon seit Jahrzehnten nicht mehr, wie Roth es mit seinen süßen Mädeln und koketten, trägen Leutnants noch einmal weniger porträtiert denn formt. Müde sind sie geworden, die Gestalten jener Vorkriegszeit Schnitzlers, noch weniger robust, noch verlustiger jener rotbackigen Derbheit, die sich immer zu helfen weiß, und so verderben sich die Helden und Heldinnen töricht das wenige und kleine Glück, das noch durch ihre Hände fließt wie feiner, goldener Sand.
Nicht nur das Törichte aber durchwandert die Romane, das Böse selber hinkt graziös, elegant und schlank durch die Geschichten und sucht den Menschen zu verderben. Auch Jenö Lakatos, der Versucher, der Teufel, indes wirkt kraftlos, weniger elementar selbst als beim Zeitgenossen Thomas Mann, dessen ironischer Teufel körperloser ist, aber dem Grauen, dem Dunkeln näher als dieser Exponent der Hölle, der nur noch leicht, fast neckisch dorthin ziehen kann, wohin die Protagonisten mehrerer Romane ohnehin neigen, schwanken und schließlich versinken.
Die Widerstandskraft gegen das Verderben ist schwach bei den Figuren, denen wir zuschauen dürfen in jenen Romanen. Und schwach erweist sich auch Wille wie Vermögen Roths, dem Rausch, der Abwesenheit und der Flucht vor einer spitzen, klirrenden Wirklichkeit zu widerstehen, und so sinkt er denn, fällt nicht nur in Visionen eines noch einmal kaiserlichen Österreichs, sondern tiefer der Angst und der Heimatlosigkeit entgegen, bis Nerven und Körper 1939 der alkoholischen Betäubung nicht mehr standhalten.
In einem Spital von Paris, nur etwas über vierzig Jahre alt, stirbt Joseph Roth einer Welt zu, die in seinen letzten Büchern dem Traum und dem Märchen glich, golden glänzende Heimat, die sich einer erfindet auf lebenslanger Flucht.
Wunderbarer Text für einen wunderbaren Autoren. Sprachlich – wie immer – umwerfend, informativ, bezaubernd.
Ich glaube, Ihnen könnte Dezsö Kosztolanyi sehr gefallen, wenn Sie ihn nicht sogar schon kennen. Zu „Ein Held seiner Zeit“, einem seiner grandiosen Werke, wird in Kürze bei mir Näheres folgen, aber auch „Der goldene Drachen“ ist ein sprachlich wie psychologisch famoser Roman. Tragisch im Sinne des „unwissend und unschuldig schuldig Werdens“, scharfsinnig und packend. Es gibt eine Menge enorm Entdeckenswertes im bohèmen Osteuropa des noch jungen 20. Jahrhunderts.
Wer weiß, ob er denn ewig ruhelos umhergezogen wäre, nichts als ein paar Koffer sein eigen, wenn die Nazis seine junge Frau nicht umgebracht hätten. – Sehr lesenswert sind auch die Erinnerungen, die Ilja Ehrenburg über ihn niederschrieb.
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Da freue ich mich…
… wenn Sie über Kosztolanyi schreiben. Ein Held seiner Zeit ist ein großartiges Buch, bisher leider alles, was ich von dem Autor kenne, über den ich auch wenig weiß.
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Nein, Ilja Ehrenburgs Erinnerungen kenne ich nicht. Den kleinen Essay von Kesten habe ich gelesen, der charmant, aber nicht sehr aufschlussreich ist. Da geben die Essays von Reich-Ranicki schon mehr her, der auch einiges an Sekundärliteratur verarbeitet, das ich zu faul bin, zu lesen (insb. in Kakanien als Wille und Vorstellung von 1973).
Das Anmutige, Liebenswürdige, das Reich-Ranicki preist, den Hang zur Selbstinszenierung, zu einer skurrilen Form der Grandezza, ist leider etwas, über das ich ad personam mehr geschrieben hätte, wäre nicht die Länge eines noch lesbaren Blog-Textes beschränkt. Seitenlange Abhandlungen will hier ja keiner lesen, da pickt man sich also entweder etwas heraus, oder bleibt sehr an der Oberfläche. Zur Person Roths hätte es sich natürlich gelohnt, Soma Morgensterns Erinnerungen Joseph Roths Flucht und Ende zu verarbeiten, dessen eigene Prosa nicht viel taugt, will mir scheinen, der aber auch einen sehr schönen Erinnerungsband zu Alban Berg verfasst hat, den man nicht nur für den Wozzeck gehalten sein sollte, zu schätzen.
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„Der goldene Drachen“ ist auch fantastisch, finde ich. Im freien Handel nicht mehr erhältlich, aber das Antiquariat Buchlanda verkauft über das „ZVAB“ neuwertige und originalverpackte Hardcover-Ausgaben von 1999. Ich habe zugegriffen und war ebenfalls begeistert.
Es ist weit weniger heiter als „Ein Held seiner Zeit“, aber auch hier bricht verschmitztes Augenzwinkern durch die dunklen Schleier des menschlichen Zerbrechens. Es geht um das Leben eines gutmenschlichen Gymnasiallehrers in Sárszeg, der überrollt wird von einer urplötzlichen Lawine seltsam miteinander verwobener Schicksalsschläge (um nicht zu viel zu verraten). Ebenfalls ein absoluter Lesetipp. „Nero“ von ihm steht noch im Regal und wird demnächst in Angriff genommen, wenn Coetzee und Svevo vom Nachttisch gelesen sind.
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[Oops. Factual error. Gott, wie peinlich! R.s schöne, junge Frau wurde gemütskrank und kam in die Klinik. Das mit den Nazis war ein anderer.]
Gerne mehr Text! Ich z.B. würde hier durchaus gerne seitenlange Abhandlungen lesen, und ich denke, ich bin da nicht der einzige.
Ehrenburg lohnt sich allein schon deshalb, weil auch er in den 20ern und 30ern in den spannendsten Städten gelebt und mit den interessantesten Zeigenossen Kontakt hatte – auch mit Leuten, die heute vielleicht zu Unrecht an Bekanntheit eingebüßt haben. Außerdem purzelt er mir gerade in allen möglichen Antiquariaten in die Hände.
Ach ja: extra wegen Roth lohnt es sich wohl nicht, dort nachzulesen, da nur wenige Seiten ihm gewidmet sind. Traurig der Schlußsatz: „Seinen Freunden wurden ein paar Manuskripte und ein Spazierstock übergeben.“
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Seitenlange Abhandlungen….
….in Blogs finde ich selbst auch ein bißchen schwierig. Man liest am Monitor ja doch anders als auf Papier, und je komplexer ein Text wird, um so schwieriger wird seine Rezeption innerhalb dieses Fastfood-Mediums „Internet“. Überdies dürften Texte insbesondere zur Literatur auch nicht das sein, was die Leserschaft hier so am meisten bezaubert, das wird viel einfach weggeklickt. – Vielleicht wäre das weniger der Fall, wenn man tatsächlich mehr Biopics liefern würde, offenbar lesen viele Leute ja lieber über einen Autor, als sich tatsächlich mit seinem Werk zu beschäftigen, eine oft etwas ekelhaft anmutende Vorliebe. Bei Dussmann liegen diese Bücher über das Liebesleben der Sylvia Plath etc. ja in hellen Haufen herum. Die „Yellow Press“ der brigittelesenden Deutschlehrerin.
Ehrenburg gehört ja zu denjenigen Autoren, deren Ruf ich mir im Nachhinein nicht erklären kann. Seine Autobiographie kenne ich ja gar nicht, nur ein bißchen erzählende Prosa, aber das hat mich alles nicht überzeugt. Ich kann´s nicht belegen, aber ich habe manchmal das Gefühl, die Hinwendung zum Kommunismus sei in vielen Fällen mit mit sofortigem Talentverlust bezahlt worden. Sogar Johannes R. Becher konnte ja in seinen Frühzeiten einmal schreiben, Brecht hat in seinen späteren Jahren nur noch Mist verbrochen, dafür lohnen sich die kommunistischen Renegaten, Sperber oder Koestler dann ja wieder. Da hätte man gleich misstrauisch werden müssen, aber der Kommunismus soll ja ohnehin dem grotesken Irrtum aufgesessen sein, es gebe Wichtigeres als Literatur.
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Ach Gottchen, ich weiß nicht, was ich von Ehrenburg als Schriftsteller halten soll, aber Erinnerungen aus dieser Zeit, egal von wem, lese ich eigentlich ganz gerne. Koestler ist natürlich noch lesenswerter – in seinen beiden Berlinjahren ist Deutschland wohl am deutlichsten in die Barbarei gekippt, was sogar an eigentlich liberalen Orten wie bei Ullstein, wo er von 1931-33 tätig war, plötzlich deutlich wurde.
Und was das Soap-Potenzial Deiner Leserschaft angeht, stelle ich lieber keine Vermutungen an. 😉
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(Wobei Koestler lustigerweise auch mal davon geträumt hat, Traktorfahrer in der Sowjetunion zu werden. Aber er hat diesen Unsinn schließlich irgendwann eingesehen, wohingegen Brecht nicht mal dann einsichtig war, als man Weggefährten, Freunde und Geliebte, wie z.B. die wunderbare Carola Neher, umgebracht hat. Über die Tauwetterperiode hinaus noch stur an seinem religiösen Glauben an den Kommunismus festzuhalten, zeugt schon von einer seltenen Verbohrtheit, an der vielleicht zu ersehen ist, wieviel Herzblut manche in dieser Zeit für eine Lebenslüge investiert haben.)
Ehrenburgs Leben war ein Drama, eine Tragödie und eine Verstrickung.
Wo es um Leichenberge geht, spielt weniger literarischer Feinsinn eine
Rolle, als vielmehr der direkte Nutzwert, in diesem Fall die Mobilisierung gegen
die Nazis. Die Biografie Ehrenburgs ist vielleicht das Interessanteste an dem Mann.
http://de.wikipedia.org/wiki/Ilja_Ehrenburg
Und Sperber ist gar nicht so weit weg von Ehrenburg, Letzterer war eigentlich schon
Dissident, wurde aber zum Propagandisten der Sowjetunion, weil er meinte, dies
gegen die Nazis tun zu müssen. Ein Weltkrieg ist schließlich kein Kindergeburtstag.
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Jetzt sehe ich es erst: „… aber der Kommunismus soll ja ohnehin dem grotesken Irrtum aufgesessen sein, es gebe Wichtigeres als Literatur.“
Das hast Du aber schön gesagt! 😀
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Manchmal frage ich mich, ob das Romantische an dieser ja an sich vollkommen lächerlichen Vorstellung, Landarbeiter zu werden, oder in einer Fabrik zu arbeiten, den kommunistischen Intellektuellen der Zwanziger und Dreißíger klar war. Im Grunde spielt doch in dieser Vision eines einfachen, schlichten Lebens dieselbe Sehnsucht nach dem unverstellten Erleben mit, die sich im Tonio Kröger mitteilt. Diese Sehnsucht nach Auflösung, Gemeinschaft, Aufgehen, die der Gegenwart völlig fremd sein dürfte. Man kann das ja gar nicht mehr nachvollziehen.
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Nein, Che, da kommen wir nicht zueinander. Diese Idee, das Gute dem Schlechten im Kampf gegen das Schlechtere opfern zu müssen, ist mir vollkommen fremd, und eine Situation, die die Rechtfertigung eines totalitären Terrorregimes objektiv erfordert, kann ich mir nicht vorstellen. Dass die subjektive Motivation dieser Leute ehrenwert gewesen sein mag, stelle ich ja gar nicht in Zweifel, indes wären mir ein paar gute Bücher lieber. Die Sowjetunion hätte vermutlich auch dann gewonnen, wenn Ehrenburg einfach zu Hause geblieben wäre.
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Man kann auch umgekehrt formulieren und mutmaßen: „… ob das Lächerliche an dieser ja an sich vollkommen romantischen Vorstellung …“
Es ist schon erstaunlich, welchen Unterschied es macht, ob ein Mensch in eschatologischen Dimensionen denkt oder, wie heutzutage, völlig den Glauben daran verloren hat, daß sich an der Conditio humana je grundlegend etwas ändert.
Und Tonio Krögers und Magdalena Vermehrens, die gerne in den blonden Blauägigen aufgehen würden, gibt es heute noch genauso wie Anno Dunnemals.
(Empfinden nicht manchmal Du oder ich, wenn wir so durch die KastanienalSCHNAUZE!!!(
Gerade neulich sah ich in der Lychi eine wunderschöne blonde Inge Holm und ward von großem Verlangen erfüllt, in ihr aufzuKLAPPE!!!REPLY:
Ach was, man liest ja immer von politischer Desillusionierung, Glaubens- und Gottesverlust, einer tiefsitzenden Enttäuschung der Intellektuellen bezüglich Weltanschauungen undsoweiter, Fakt ist aber schlicht und einfach, dass die Conditio Humana zumindest mir so egal ist wie kaum etwas anderes. Ich habe mit meiner eigenen Conditio dermaßen genug zu tun, für die Conditio der Welt an sich habe ich da weder Zeit noch Interesse über. Und was die Blondheit angeht, ist mir auch dieser Neid fremd, ich bin eigentlich ziemlich gern, die ich bin, wenn möglich ein paar Pfund leichter, aber das ist eine andere Sache.
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@Traktorfahrer, Arbeiter: Da muss niemand in die 20er oder 30er Jahre zurückgehen.
Noch in den 80er Jahren hatte ich Genossen/innen,
die nach dem Studium in die Fabrik gingen, um die Arbeiter politisch zu agitieren,
und Solche, die in den Semesterferien bei Fiat in Turin arbeiteten, um da etwas vom
revolutionär-proletarischen Geist der dort normalerweise explizit linken Arbeiter
mitzubekommen. Das war nicht nur romantisch, sondern hing mit der (wahrscheinlich
irrigen, aber jedenfalls gemachten) Analyse zusammen, dass revolutionär gesinnte Leute
unter den Menschen leben sollten, die man für das revolutionäre Subjekt hielt. Solange
man davon ausging, diese Gesellschaft verändern zu wollen und zu können, eine durchaus
pragmatische Sache im Sinne von „Wie erreiche ich mein Ziel?“ und auch eine moralische
Frage. Dieses sein Leben einer Sache weihen und nach politischen Prinzipien ausrichten
ist auch mir nicht fremd, wenn bei mir das Programm auch etwas anders aussah. Und
wenn Du, booldog schreibst: „Genau das meinte ich eben mit der Aussage, daß uns diese
Menschen von
damals mit ihrem Idealismus und ihren Utopien völlig fremd sind.“ – Nun, da muss ich
sagen, obwohl ich Dich kenne und sehr schätze, Diejenigen, die sich zu dieser Fremdheit
bekennen, sind mir völlig fremd. Es hat eine Zeit gegeben, da wäre ich für meine Ideale
gestorben, ich habe eine Ausbildung in der Verlagsgruppe Handelsblatt, die ich hätte
bekommen können, nicht angetreten, weil das der Klassenfeind war, und es haben Leute
mir die Freundschaft gekündigt, weil ich einen Job in der IT-Branche angetreten habe
und das als politisch nicht korrekt galt.
–
Zu leben, ohne diese Welt politisch ändern zu wollen, ist mir nicht vorstellbar.
Demgegenüber halte ich meine eigenen Belange für sekundär.
Also, ich lebe schon sehr gerne und habe sicher auch Einiges an gesundem Egoismus,
aber ganz grundsätzlich finde ich das Weltgeschehen doch wichtiger als mich. Ich
kann, wenn auch schweren Herzens, akzeptieren, kein erfülltes Liebesleben zu haben oder
beruflich nicht so erfolgreich zu sein, wie ich eigentlich möchte, aber ich wäre lieber tot,
als mich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, so wie sie sind, abzufinden.-
REPLY:
Ehrenburg zu Hause geblieben: Das Leben ist nun mal nicht immer einfach,
die Lösung nicht immer sauber. Auch ich habe schon eine Partei unterstützt,
die man als terroristisch bezeichnen könnte und auch hat, weil sie die wichtigste
Kraft war, die gegen einen Genozid kämpfte (in Kurdistan). Die Alternative wäre
Nichtstun gewesen, aber dazu war ich moralisch nicht in der Lage.
REPLY:
Fakt ist aber schlicht und einfach, dass die Conditio Humana zumindest mir so egal ist wie kaum etwas anderes.
Genau das meinte ich eben mit der Aussage, daß uns diese Menschen von damals mit ihrem Idealismus und ihren Utopien völlig fremd sind.
Und es geht auch nicht um Neid auf die blonden Blauäugigen – ich bin auch gerne die, die ich bin, wenn möglich ein paar Pfund leichter 😉 – sondern um die Sehnsucht, jemand anders zu sein, dazuzugehören – die Sehnsucht nach der blonden Inge Holm aus der Raucherecke im Schulhof, vielleicht um verschwendete Jahre, die man deswegen nicht wirklich gelebt, sondern unproduktiverweise damit verbracht hat, nur auf die anderen, vermeintlich Glücklichen zu schielen, und mit sich und der Welt zu hadern — nur damit am Ende die Hölle, der Fluch, die Nemesis in Gestalt einer Magdalena Vermehren über einen hereinbricht, die den Anschein hat, alle Inge Holms der Welt zu toppen, und einen an alle biographischen Sünden auf einmal erinnert. (Und wie man sich dann auch schreiend, getroffen winden mag – auch das geht vorbei. Aber worauf wollte ich jetzt hinaus?)
Und noch was. Literatur nährt sich vom Weltgeschehen, nährt sich von der Conditio humana. Was ist die Literatur ohne ihr Substrat (wert)? Nicht viel mehr als belanglos amüsant und schwatzhaft?
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Da stehen wir, Che, auf unterschiedlichen Böden. Im Gegensatz zu Dir glaube ich nicht an eine Veränderung der politischen oder ökonomischen Weltordnung, die das Ausmaß an Leid, das sich Menschen zufügen, wirklich verringern würde, es würde wohl am Ende nur anderen zugefügt.
Es mag sein, dass ich ein schiefes Bild von den linken Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts habe, aber allein schon die Absicht, andere Leute zu „agitieren“ ist mir fremd und letztlich äußerst unangenehm. Eine Welt zu ändern, die ihre Schwächen haben mag, um sie gegen eine Welt einzutauschen, die andere Schwächen haben würde, erscheint mir völlig sinnlos. Wenn ich mir ohnehin irgendeine Form des politischen Credos abringen kann, dann vermutlich das Bekenntnis zu einer Welt, die in größtmöglicher Freiheit jeden tun und denken lässt, was er will, ohn ihn überzeugen zu müssen, und die es übersteht, wenn Mitglieder ihr gleichgültig gegenüberstehen, und weitaus lieber über die Literatur sprechen als über die Gesellschaft.
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Literatur kann sich vom Weltgeschehen nähren, Literatur kann aber auch von nichts als reiner Sprache als Ort der Magie leben, und das nur Amüsante, Geschwätzige hat seinen eigenen Reiz und Zauber.
REPLY:
Ich würde nicht einmal sagen, dass ich an etwas glaube, höchstens, dass ich
etwas anstrebe. Eine Welt, die in größtmöglicher Freiheit jeden tun und denken lässt, was er will, ohn ihn überzeugen zu müssen, und die es übersteht, wenn Mitglieder ihr gleichgültig gegenüberstehen, und weitaus lieber über die Literatur sprechen als über die Gesellschaft,
ließe sich durchaus als Anarchie verstehen und würde meiner Utopie durchaus entsprechen. Ich gehe allerdings davon aus, dass sich so etwas nicht anders als über lange und schmerzvolle Kämpfe erreichen lässt.
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Nun gut, es gibt die reine Phantasie und Sprachästhetik, aber von der Conditio humana nährt sich sonst so ziemlich alles, bis hin zu Romanen von Rosapunze Milcher (oder wie die Gute heißen mag).
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Che, was tust Du hier? Ist das die richtige Gesellschaft für Dich?
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Wieso? Man kann einander mögen, ohne der gleichen Meinung zu sein.
Sie müssen doch auch, Frau Modeste, viele Träume haben, sonst könnten Sie doch, mit Verlaub, nicht so entführend schön schreiben! Und wenn Sie sagen, dass Sie nur private Träume leben möchten, dann hoffe ich tatsächlich, dass diese Gesellschaft dies ertragen kann, Sie haben jedes Recht dazu. Wir streben darauf hin, dass dies dem Menschen ermöglicht wird: Private Träume zu verwirklichen; welcher Art auch immer, und ob das gut ist, das sind ganz andere Fragen, die ich hier nicht meine. Es geht nur darum, dass gute Literatur wohl selten von saturierten Menschen kommt.
Allgemein und nicht auf Sie bezogen glaube ich, letztlich sind die privaten und die gesellschaftlichen Träume nicht zu entflechten. (Jaja, ich weiss: Das Private ist politisch)
Sie haben übrigens recht mit den kommunistischen Schriftstellern, die verzwecken ihre Literatur, und das fördert wohl nie deren Qualität. Hat aber nicht viel mit dem Kommunismus als solchem zu tun.
moccalover, da sprichst Du gelassen aus, was mir auch gerade einfiel.
Die verzwecken übrigens nur mehrheitlich ihre Literatur, aber nicht
in toto. Mir fielen da Ernesto Cardenal oder Pablo Neruda als Gegenbeispiele
ein, aber auch Peter Paul Zahl und Henning Mankell und selbst Roco und Antonia.
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Umso schöner, dann bist Du hier ja doch nicht so in schlechter Gesellschaft (wie könntest denn Du das sein, hier?). Wenn man sein ganz persönliches Erfahren, Erleiden, Geniessen und Suchen vor jede politische Überzeugung stellt, und die beiden Dinge einigermassen trennt, dann muss man auch seine Literatur nicht verzwecken. Natürlich verzweckt jeder ein bisschen, da müssen wir uns nichts vormachen. Aber die Unterordnung der Unbändigkeit der Kunst unter politische Zwecke ist eine klare Grenze. Da verhält es sich heutzutage – kommunistisch bezweckte Künstler gibt es ja nicht mehr viele – mit kommerzieller Kunst bzw. Kunsthandwerk (Pop) nicht anders. Auch verzweckt, ideologisch-kommerziell.
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Ich würde es anders gewichten – das persönlich Ge- und Erlebte nicht vor die
politische Überzeugung stellen, sondern diese aus der persönblichen Erfahrung ableiten
bzw. durch diese immer wieder überprüfen, so dass beide eine Einheit bilden.
Man darf keinen instrumentellen Zugang zu den Dingen haben. Das ist das, was ich
an den Leninisten immer kritisiert habe: Dass sie kalt rechnende Ingenieure waren,
die keinen echten Zugang zum Leben hatten, lauter Homo-Faber-Typen. Geschichte,
Soziales, Politik ist Leben, und das Leben lässt sich nicht in einen klappernden
Mechanismus von Kategorien zwängen. Die Kunst, deren Wesen es ist, das Leben abzubilden
und lebensförmige Strukturen zu schaffen, auch nicht. In Lateinamerika und romanischen
Ländern haben auch viele linke Künstler dies begriffen, nur nicht im preußisch-russisch
geprägten Raum, dem knutogermanischen Imperium.
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Schon klar. Nicht davorstellen oder darüberstellen, sondern genau so, wie Du es sagst. „Das Leben kommt vor der politischen Überzeugung“ – damit meinte ich bloss, dass die Erfahrung zeitlich vor der Einstellung kommen und nicht zu stark von dieser schon beeinflusst sein soll.
Frau Modeste, Sie nehmen uns dieses leichte Abdriften in die Politik in Ihrem Salon hoffentlich nicht übel!
Frau Modeste…
… es ist eine Freude deine Texte zu lesen. Und das ist nicht nur meine Meinung… lies doch mal deine E-Mails, liebe Frau Modeste.
Der Wind hat längst gedreht. Heute Gewitter…
REPLY:
@Mikra: Manchmal, Modeste, frage ich mich, ob Du nicht eine gute Literaturkritikerin
oder Essayistin wärst, statt der Paragraphendeuterei nachzugehen. Oder Du bereicherst
die Rechtsprechung durch literaturpreisverdächtige Plädoyers 🙂