Sie alle, sofern Sie in zumindest mittelgroßen Städten leben, kennen das Phänomen der Obdachlosenzeitschriften, die von ein wenig herabgekommenen Personen an öffentlichen Orten angeboten werden, um diesen, so sagt man, ein würdigeres Auskommen als die Bettelei zu ermöglichen. Ein ehrenwertes Projekt sei das, hört man allerorten, auch wenn die Zeitschriften leider qualitativ meist wenig überzeugend seien, und so kaufen Sie alle ab und zu von diesen Produkten und werfen sie dann auf der Stelle weg. Dass es eine Schande sei, dass die Gesellschaft so gestrickt sei, dass Menschen auf der Straße vegetieren müssten, derlei hört man auch anlässlich der Verkaufskampagnen, aber was man viel zu selten hört – wie soll ich sagen… Es ist aber, glaube ich, kein wirklich rationales Argument:
Der Glaube an einen und allmächtigen Gott, sagt man, gehöre ja schon einer recht fortgeschrittenen Kulturstufe an, setze ein ganz ordentliches Abstraktionsvermögen voraus, und zu recht sei die Theologie deswegen ein vielsemestriges Studium und nicht jeder Dahergelaufene dürfe daherkommen und die Riten der römisch-katholischen Kirche einfach so wirksam vollziehen. Weil aber die Wissenschaft der Gotteserkenntnis in den letzten par Jahrtausenden schöne Fortschritte gemacht hat, weiß der rechte Gottesgelahrte wie auch sein gläubiger Adept heute eigentlich ganz genau, dass das Opfer selbst dem Allgewaltigen eigentlich recht egal sei, und die Gabe an die Armen etwa nur Zeichen einer ordnungsgemäßen Wesensart, der Milde, der Barmherzigkeit und so weiter.
Bei mir aber, bemerke ich leider stets aufs Neue, hat dieser Fortschritt gegenüber der plumpen Erpressung göttlicher Gewalt noch keinen rechten Niederschlag gefunden, und vielleicht steht auch individuelle Bequemlichkeit dem gottgefälligen Wohlverhalten zugunsten eines simplen Kaufs des göttlichen Segens entgegen. Indes sind die rauchenden Altäre in Berlin ja ein leider seltenes Phänomen, und ein Opfer privatissime etwa in der heimischen Badewanne würde wohl schneller, als es mir recht ist, mein Mietverhältnis beenden. Auch Sie, verehrte Leserinnen und Leser würden sich ja angewidert abwenden von einer Dame, welche in einem Fischgeschäft einen lebenden Karpfen um billiges Geld erwerben würde, um ihn daheim mit einem Filetiermesser abzustechen, auf dass der nächste Prozess gewonnen werde, oder meine Diät möglichst erfolgreich sei. Auch ein pflanzliches Brandopfer findet aus gutem Grund wenig Anklang bei meinen Mitberlinern, und sogar im Tiergarten, wo das öffentliche Rösten ungeschlachter Hammelstücke und ganzer Schweine kein unübliches Phänomen darstellt, wäre eine Person, die zugunsten einer Dissertation „summa cum laude“ einen Rosenstrauß verbrennen würde, und unter beschwörenden Huldigungen dunkler Mächte um das Feuer tanzte, eine ungewöhnliche Erscheinung, die auch von hartgesottenen Berlinern als wenig comme il faut wahrgenommen würde.
Das wirkungsvolle, aber geschmackvolle Opfer muss also dezentere Formen annehmen, und so würden auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, den Opfercharakter derjenigen Handlungen, von denen ich mir günstiges Fahrwasser meines Tuns und Treibens erhoffe, teilweise gar nicht erkennen. Einem der nervenzerfetzenden U-Bahnbettler eine Münze in die Hand zu drücken, etwa, und auf einen erfolgreichen Ausgang einer Verhandlung zu hoffen. Einer steinalten, russischen Blumenverkäuferin einen ihrer mickerigen Sträuße abzukaufen und ihn auf einem Stein im Mauerpark liegenzulassen auf dem Weg zu einer Verabredung. Einen Euro in das Ausgabefach eines Kaugummiautomaten zu schieben, damit irgendein Kollwitzkind sich gleich zehn weitere Kaugummikugeln kaufen kann.
Manchmal klappt’s. Aber wenn einer der beschenkten Bettler mir seine mistigen Zeitschriften aufzunötigen sucht, ärgere ich mich ein wenig über den unwissentlichen Versuch, mir statt des göttlichen Wohlwollens nur eine schlechte Zeitung aufzudrängen.
Das aber, sagen Sie sicherlich, sei kein vernünftiges Argument gegen diese wohltätigen Projekte, die schon vielen Menschen einen Absprung aus der Obdachlosigkeit und ein Leben in Würde ermöglicht hätten. Und derlei egoistische Opfer seien an höherer Stelle ohnehin nicht gern gesehen.
Viele Jahre sind vergangen…,
dass ich bei und mit obdachlosen Männern meinen Zivildienst verbrachte und dabei mehr über das Leben lernte als in vielen sich anschließenden Studienjahren. Es war in der wunderschönen Stadt Aachen; Obdachlosenzeitschriften gab’s da noch nicht, vielleicht und hoffentlich auch heute nicht. Die obdachlosen Männer waren so vielfältig wie das Leben ist; aber manches war den meisten von ihnen doch gemeinsam: so spielten sie unheimlich gerne mit mir Fußball im Park am Sonntag vormittag; und sie erzählten viel und gern von ihrem Leben, auch wenn es oft vom Scheitern und Mißlingen handelte. Besonders beeindruckt hat mich, dass es oft sehr ehrliche Menschen waren. Viele hätten eher ihr letztes Hemd gegeben, als so schäbig gegenüber anderen Menschen aufzutreten, wie sie es oft am eigenen Leib erfahren hatten. Die meisten dieser Menschen hab‘ ich lieb gewonnen und ich wünsche allen, dass sie sich nie durch das Verkaufen von Obdachlosenzeitschriften den oft abschätzigen Blicken der nach eigener Einschätzung (noch) nicht Gescheiterten aussetzen müssen.
REPLY:
Hmm.Ich muss ja sagen, ich kenne zwei Obdachlosenzeitschriften, nämlich TagesSatz (Göttingen/Kassel) und The Big Issue (London), die sind richtig gut. Big Issue würde ich sogar als eine der besten sozialkritischen Zeitschriften weltweit bezeichnen. Zumindest, als ich beide Blätter noch las.
Ja. Und nein. Ja, weil ich das Niveau gewisser Zeitschriften, die mir als Student gratis in die Hand gedrückt wurden, nicht plötzlich altersweise und retrograd so erhöhen würde, dass ich Zeit dafür aufwenden möchte, sie zu lesen – geschweige denn Geld, sie zu kaufen. Nein, weil diese Zeitschriften nun einmal einigen Leuten etwas vermitteln, wozu ihnen sonst niemand eine Chance geben würde. Ich möchte mich nicht selbst als Almosengeber erhöhen und den Verkäufer als Almosenempfänger erniedrigen, ich möchte eigentlich einem Menschen für seine Dienstleistung den Preis zahlen, den er verlangt, weil ich ihm dadurch eine Form von Respekt zollen will.
Das soll aber keinesfalls als Gegenargument zu Ihrem Handlungsaufruf dienen, den ich sehr sympathisch finde.
Was aber Gott betrifft – der, den ich kenne, will weder Almosengeber noch Opfergaben. Der, den ich kenne, schaut ohne Umwege ins Herz des Menschen. Und ist dadurch der unangenehmste Gott, den ein Mensch sich vorstellen kann…
Denk an das Märchen von dem Fischer un siene Fru, bevor du deine soziale Flughöhe als gottgegeben betrachtest.
Ähm…
mich würde ja interessieren, welches Zeitung/Magazin etc. den Horizont der geschmähten Obdachlosenzeitschriften erkennbar überschreitet. Mir fiele auch bei langem nachdenken nur die DU ein.
Wenn ich mich über andere Leute ärgere, dann ärgere ich mich gleichzeitig auch ein bisschen über mich selbst.
Vielleicht, Sokrates, besteht ja ein direkter Zusammenhang zwischen der Ehrlichkeit und dem etwas maroden Zustand Ihrer ehemaligen Schützlinge? – Aber soweit wollen wir hier nicht gehen, und statt dessen nur feststellen, dass der ehemals ehrenwerte Stand des Bettlers zu Unrecht in der Wertschätzung der Menschen herabgekommen ist, denn derjenige, der Gelegenheit zur Caritas bietet, bietet letztlich eine imponderabile Dienstleistung an, die über den Wert einer Zeitschrift weit hinausgeht.
Die erwähnten Magazine, Che, kenne ich leider nicht, aber die Berliner Magazine sind gar grausig, schlecht designt, übel betextet und bestürzend unelegant. Gute Absichten und schlechte Ausführung. Da kenne ich glatt kein Magazin, Herr Moravagine, das ich kaufen würde, und das schlechter wäre. Und damit, Herr Raysom, wird der Verkäufer eben doch wieder Almosenempfänger, denn ohne den caritativen Hintergrund würde man diese Dinger ja nicht kaufen, es handelt sich also um eine Art Vorwand. Dann doch lieber die ehrliche Variante der offenen Hand, die ich, Herr Chat, im übrigen vorziehen würde, würden mich die Zeitläufte einmal auf die Straße werfen. Ich habe allerdings nie so ganz verstanden, wie angesichts des doch recht engmaschigen Sozialstaates irgendwer ganz ohne Dach über dem Kopf dastehe kann, aber es scheint ja so zu sein.
Und wenn ich mich über andere ärgere, Herr Entracte, ärgere ich meistens tatsächlich über jene. Es sollte, um auf den Anlass des Textes zurückzukommen, ein Schweigegebot in der Bahn geben. Und das Verbot, Waren und Dienstleistungen feilzubieten.
Wußten sie nicht das besagte Personen nur zur Tarnung in Penneruniform auftreten ?
In Wirklichkeit sind sie es, die unser Land im Sinne der Menschlichkeit regieren und die Bürde der Verantwortung lastet schwer auf der Unantastbaren.
Ich verbeuge mich vor den wahren Machtinhabern C
^
REPLY:
Liebe Modeste, da muss ich natürlich einschreiten: Ihr … es scheint ja so zu sein angesichts derer, die ganz ohne Dach über dem Kopfe dastehen, dürfte ein wenig zu kurz gegriffen sein. So mancher von diesen wird über die Zeit eben so klein, dass er selbst durch die „engen“ Maschen unseres Sozialstaates purzelt und sich letzten Endes ausgerechnet mit einer solchen Zeitung in der Hand in Ihrer Bahn wiederfindet, bevor er sich nächtens eine Bank sucht. Ganz zu schweigen davon, dass eine sozialstaatliche Alimentierung leider nicht alles ist und eine wohlgefütterte Gesellschaft noch so laut und erbost Hängematte! schreien kann, wenn sie gleichzeitig den Zaun zu denen da hübsch hoch zieht.
Nachvollziehen kann ich Ihre Sehnsucht nach einem Schweigegebot in der Bahn, zumindest in Teilen. Vielleicht machen Sie sich ja – auch im Sinne des Opferns – doch einmal auf die Suche nach einem Kirchlein. Vielleicht haben Sie Glück und finden eines, in dem Sie sogar eine echte Kerze anzünden können anstatt eines Glühbirnchens. So schlagen Sie gerade zu dieser Jahreszeit drei Fliegen mit einer Klappe: Erstens können Sie die Entrichtung des Obulus´ mit der Bitte um Berücksichtigung des summa cum laude verknüpfen, zweitens ist es herrlich kühl und drittens wird ihnen dort sicher niemand unter umständlichem Brimborium eine Obdachlosenzeitung anbieten.
REPLY:
Ja, liebe Modeste,
von einem direkten Zusammenhang zwischen der Ehrlichkeit vieler Nichtseßhafter und ihrer maroden Situation gehe ich auch aus. Und zwar ist dieser Zusammenhang wahrscheinlich sogar ein doppelter: Ein hohes Maß an Ehrlichkeit kann zum einen schon sehr dazu beitragen, sozial abzusinken. Zum anderen hat der sozial einmal Abgesunkene kaum mehr ein Motiv, das ein oder andere noch zu verbergen. Er kann sich dann auch den Luxus einer absoluten Offenheit leisten. Und dieses Fehlen jeder Maske schafft viel Nähe. Vielleicht ist es gerade dasjenige, was (auch freiwillig) sozial abgesunkene Menschen anderen in besonderem Maße geben können.
Zur Frage, warum in unserem immer noch sehr engmaschigen sozialen Netz Menschen auf der Straße leben, kann ich aus damaliger Erfahrung folgendes beitragen: Natürlich stehen jedem Menschen in unserem Land ausreichendes Essen und ein Dach über dem Kopf zu. Da dieses Dach über dem Kopf aber ggf. bedeutet, mit anderen Männern (bei Frauen ist das wohl nicht so häufig) zu acht ein Zimmer zu teilen, in dem es nicht nur eine ausgeprägte Sozialkontrolle gibt sondern aus verschiedenen Gründen auch oft sehr streng riecht, ziehen viele Männer es vor, selbst bei Minusgraden, das angebotene geheizte Obdach auszuschlagen. So einfach ist das.
Meine Maxime: Wenn einer bettelt gib und frag Dich weder davor noch danach irgendwelches hochtrabende Zeug. Keiner bettelt, der nicht muss. Schluss.
REPLY:
engmaschig der Sozialstaat? Gut, dass Sie sagen. Mir ist das noch gar nicht so aufgefallen, aber das liegt daran, dass ich vielleicht die falschen Zeitungen lese, was zu der eigentlich wichtigen Frage fuehrt, welche Zeitungen ueberhaupt noch lesbar sind, gut oder schlecht designt. Mir fallen da nicht mehr so viele ein, jedenfalls scheint es nicht mehr so viele zu geben, die auf den gnadenlosen Abbau von Arbeitnehmerrechten und Sozialleistungen eingehen….wie dem auch sei. Jedenfalls find ich das schon ziemlich provokativ,in diesen Zeiten vom engmaschigen Sozialstaat zu sprechen, das war das mit der Realitaet, ach ja…..zeichnet nur die Verschiebung von der Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit ab, soll doch der Penner seine Zeitung schoener designen, dann kauft sie auch jeder. In diesem Sinne, Froindschaft.
REPLY:
Die „ehrliche Variante der offenen Hand“ zahlt sich am wenigsten aus, beste Modeste. Und zwar deswegen, weil wir (du, ich, alle um uns herum) so (verkommen?) sind, wie wir sind. Wir leben in einer Warenwelt, wir haben in ihr unsere Erwartungen – und jemand muss schon den Anschein eines angebotenen Kaufvorganges erwecken, damit er überhaupt unsere Wahrnehmungsschwelle überwindet. Und wenn’s nur eine dieser Zeitungen ist, die übrigens so schlecht meist gar nicht sind; soziale Erfahrungen vom unbekannten Rande der Welt gibt’s dort satt, wenn man sich nur auf den Text bezieht. Diese Erfahrungen sind auch keineswegs so, wie wir uns das mit unserem meist dürftigen Vorwissen denken. Dass das Design und die Papierqualität nicht debug- und max-mäßig aufgebrezelt ist, das ist mangels Geld so. Aber das finden wir ja nicht wirklich schlimm – oder?
REPLY:
@chat: „soziale Erfahrungen vom unbekannten Rande der Welt gibt’s dort satt,
wenn man sich nur auf den Text bezieht. Diese Erfahrungen sind auch keineswegs so,
wie wir uns das mit unserem meist dürftigen Vorwissen denken. Dass das Design und
die Papierqualität nicht debug- und max-mäßig aufgebrezelt ist, das ist mangels Geld so.
Aber das finden wir ja nicht wirklich schlimm – oder?“
Volle Zustimmung – wobei ich selbst lange Zeit ein Freund der Bleiwüste war
(bis ich professionell layouten lernte) und die Hochglanzigkeit von Magazinen wie
Max, Tempo etc. eher als Motivation nahm, sie nicht zu lesen, nach dem Motto: „Was
so daherkommt, kann ja nur Yuppieschrott sein!“
REPLY:
@Antonia2
Ja, was ist ein „engmaschiges“ soziales Netz?
Ich schlag mal folgenden Sprachgebauch vor:
1. Engmaschig ist ein soziales Netz (auch im internationalen Vergleich), wenn selbst den Mitmenschen, die darüber lachen, dass andere mit Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen, das Lebensnotwendige gegeben wird.
2. Verschwenderisch ist ein soziales Netz, das arbeitslosen 18-Jährigen eine eigene Wohnung samt Einrichtung finanziert, nur weil sie dazu bereit sind, nicht mehr bei ihren Eltern zu wohnen.
3. Luxuriös ist ein soziales Netz, das den Genannten zusätzlich noch einen stets vollgetankten Mercedes zur Verfügung stellt.
Ich denke, wir sind derzeit noch bei (2), gehen aber hoffentlich auf (1) zurück. (3) würde zwar von vielen gewünscht, wäre aber nur zu leisten, wenn wir viele Ölquellen im Land hätten.
REPLY:
es war in dieser wunderschönen stadt aachen, als mich vor über zehn jahren ein mann auf der straße um geld ansprach. vielleicth anfang fünfzig, halbwegs gepflegt – und an seiner haltung und mimik konnte man deutlich ablesen, wie unangenehm ihm das alles war …
es ist eine von zwei bettelszenen in meinem leben, die ich behalten habe. die andere war in amsterdam. ein optischer lebenskünstler, auch anfang fünzig sprach mich zunächst auf englisch, dann auf deutsch an. er wolle nicht lang drum herum reden, er möchte ein bier trinken. war eine ehrliche nummer, hat er bekommen. hätte er gesagt, er hätte hunger, hätte ich ihn wortlos stehen lassen.
der mann in aachen sprach mich anfang der neunziger, in der am horizont bereits ausklingenden goldgräberstimmung an. und er hatte meinen nerv getroffen. ich, der ich als hans im glück student in meinem selbstverdienten geld schwamm – und er, der anderes erfahren hat, warum auch immer. und irgendwie hat mich diese szene aufs äußerste beschämt. ich gab ihm fünzig mark [nein, das mache ich nicht immer] mit dem satz, daß ich es erbärmlich finde, daß so etwas auf unseren straßen passieren muß. muß es nicht. auch heute nicht. und es gibt immer noch eine steigerung. der grund, warum ich einen großteil der welt nicht mehr bereisen mag. denn hilflosigkeit ist mir mein größtes greuel …
ich finde inhaltlich nicht den richtigen dreh, worauf ich hinaus will. mein früh gestorbener großvater sagte mal eines tages, als er wohl erkannte welches mögliche potential in mir steckt: stell dich vor die schwachen. oder wie ich es heute sagen würde: richte nicht über sie. ihr leben, ihre zeitungen. denn vieles im leben ist purer zufall und glück …
REPLY:
Buße ist angesagt
Hervorragend geschrieben, liebe Frau Modeste. Ich bewundere immer wieder, wie Sie es verstehen, der Sprache Rhythmus und Melodie zu verleihen.
Inhalt sackt aber leider schwer ab. Meine Erfahrungen aus dem katholischen Gottesbild weisen aus, dass Opfer unnötig sind: entweder man kann’s, dann wird man auf die eine oder andere Weise zum Ziel kommen. Oder man kann’s nicht, dann nützen weder Kerze noch Karpfen: dann nützt nur noch Gnade und Barmherzigkeit.
Gnade und Barmherzigkeit hingegen werdem einem nur dann zuteil, wenn man selbst sie auch zu gewähren bereit ist – und zwar aus einem ganz einfachen Grunde: wenn man selbst gnädig und barmherzig ist (oder sich dies zu sein bemüht), dann entwickelt man eine Antenne dafür, die auch in umgekehrter Richtung wirksam werden kann. Wenn man es nicht geübt hat, dann muss man in Zeiten, in denen man auf Gnade und Barmherzigkeit angewiesen ist, sicherlich untergehen.
In diesem Sinne sind auch Obdachlosenzeitschriften zu kaufen. Denn sie sind nicht durchgehend schlecht layoutet – aber ein gutes Layout kostet verdammt viel Geld, was diese Organisationen meist nicht haben. Auch das Papier, auf dem gutes Layout erst richtig zum Leuchten kommt, ist zigmal teurer als das, was sich diese Zeitungen leisten können. Und der Inhalt ist – wenn er auch nicht so geschliffen formuliert ist wie Ihr weblog – bedenkenswert. Dumm oder larmoyant ist er keineswegs.
Eindeutig ehrlicher muss man allerdings werden. Man darf eine solche Zeitung nur dann kaufen, wenn man sie auch wirklich lesen will. Ebenso darf man die Blumen einer russischen Blumenverkäuferin auch nur dann kaufen, wenn man sie wirklich brauchen kann – sonst unter keinen Umständen, denn das würde dann zu einem Opfer, das niemand will, aber den Verkäufer herabsetzt. Sie glauben doch wohl nicht, dass die russische Blumenverkäuferin Ihnen nicht am Gesicht abliest, dass Sie ihre Blumen über die nächste Mauer schmeißen? Und sie glauben doch wohl nicht, dass das nicht weh tut? Die Würde muss man den „Herabgekommenen“ (wie Sie das Phänomen sich geschickt zu umschreiben bemühen) lassen – sie ist viel wichtiger als das Geld in der Tasche.
Ich würde zur heilsamen Buße aufrufen: Madame Modeste schreibt in einer (noch auszusuchenden) Obdachlosenzeitung eine eigene Kolumne. Nur zu dem Zweck, das soziale Gewissen nicht abzuschreiben, sondern konkret hinzuschreiben. Wenn Sie wollen, mache ich Ihnen einen Kontakt zu der hiesigen, Münchner Obdachlosenzeitung BISS [Bürger in Sozialen Schwierigkeiten]. Die hatten ihre Redaktionsräume mehrere Jahre in einem Haus, in dem ich langezeit wohnen und mich der Gastfreundschaft der Benediktiner erfreuen durfte. Leider mußten Haus und Grund wegen finanzieller Unpäßlichkeiten verkloppt werden – jetzt ist da ein Erweiterungsprojekt für die Geldtonnen der Reichen drin.
In Erwartung Ihrer Zusage:
Herzliche Grüße!
REPLY:
Ach, richten, Herr Timanfaya, wer das könnte….Aber auch Verständnis fällt nicht immer leicht, wenn man sich irgendwelchen Kindern gegenübersieht, die an U-Bahnhöfen um Geld bitten, und man möchte die Kinder einmal ordentlich am Kragen packen, schütteln und nach Hause schicken, die Schule beenden. Und warum mancher schon morgens um acht vorm Kiosk das erste Bier öffnen muss, versteht man auch nicht recht. Die ewigen Entschuldigungen, die bösen Verhältnisse, all das schreibt den Menschen, die man zu entschuldigen versucht, doch auch eine Unmündigkeit zu, die letztlich der Würde entbehrt.
Was da soziale Gewissen angeht, Herr Reuter, so wird da von unsereins eine ganze Menge verlangt, eine über staatliche Mechanismen transportierte Solidarität ebenso wie eine private Caritas, die dazu auch noch selbstlos zu sein hat, und keinerlei Erwartungen transportieren darf. Meine Bereitschaft zur Hilfe sinkt allerdings leider recht schnell, wenn die Hilfsbedürftigen keinerlei Anstalten machen, sich selbst aus der Situation zu befreien, in die sie durch eigene oder fremde Schud gelangt sind, oder Ansprüche formulieren, die ich mir auch nicht erlauben kann. Vor einigen Wochen war einmal ein Artikel in der ZEIT über den Einsatz deutscher Langzeitarbeitsloser bei der Salaternte, die reihenweise gar nicht erst gekommen sind oder sich erst einmal haben krank schreiben lassen. Über diese Seite von Armut zu sprechen provoziert natürlich sofort entrüstete Ansagen, man wolle wohl allen Arbeitslosen unterstellen etc. pp.. Will man natürlich nicht und weiß, wie ungünstig Verhältnisse sein können. Nur den ehrlichen Willen, den möchte man schon sehen, und sieht ihn allzu oft nicht.
Und nein, ich glaube schlicht nicht, das es nicht möglich wäre, ehrenamtlich jemanden zu finden, der diese Zeitungen besser layoutet, geschliffener schreibt oder vernünftig lektoriert.
REPLY:
Das, Herr Sokrates, erklärt einiges, aber was spricht egentlich dagegen, den Anspruch lt. SGB II auf eine Wohnung und Unterhalt, notfalls auf dem Gerichtswege zu realisieren? Da winkt doch ein eigenes festes Obdach, und diesen Anspruch, Herr Rationalstürmer, hat doch jedermann, also auch derjenige, der es erst einmal versäumt hat, möglicherwiese auf dem Einweisungsweg seine Wohnung zu behalten?
Im Grunde, Schande über mich, interessiert mich der ganze Bereich von Wirtschafts- und Sozialpolitik aber gar nicht so besonders, ich mag mich da auch gar nicht mit irgendwelchen Meinungen in die Nesseln setzen, und schon deswegen, Frau Antonia, lese ich gar keine Magazine, die sich mit diesen Dingen beschäftigen. Und im Verhältnis zu anderen Ländern kann man, finde ich, schon von einem sehr engmaschigen System sprechen, in dem jeder Anspruch auf Nahrung, Unterkunft und gesundheitliche Versorgung hat. Man soll auch nicht kleinreden, was man hat.
Und doch, Herr Chat Atkins, mir ist das ansprechende Design wichtig. Und wenn es das nicht gibt, gebe ich auch gern ohne Zeitung.
REPLY:
Da, Che, geht es mir anders, ich würde ungern schlecht designte Zeitschriften kaufen. Dann doch lieber eine Münze auf die Hand, die den Verkäufern im Übrigen auch meist lieber ist.
Und Herr Sokrates hat sicherlich recht. An dem ganzen Genörgel pro und contra Sozialstaat nervt ja auf beiden Seiten, dass immer vom Extremfall ausgegangen wird, den es natürlich auf allen Seiten gibt, den Arbeitsunwilligen, der die Berufstätigen auslacht, die ihn finanzieren, ebenso wie Verzweifelte, die gern möchten, und einfach nicht können. Insgesamt produziert dieses System – wie alle Systeme – Fehler, aber insgesamt gibt es, glaube ich, keinen Grund zu Alarmismus.
Eine Zwischenfrage: Hat Stil nicht auch etwas mit Angemessenheit und einem Sinn für Nuancen zu tun? Es stimmt mich ungehalten, wie hier mit einem doch sehr einförmigen stilistischen Repertoire (umschreiben wir es einmal mit „damenhafte Tändelei“) über die unterschiedlichsten Sachverhalte hinweggebrettert (ja, auch Damen brettern) wird, man sich dabei aber über die Unform des jeweils beschriebenen Gegenstandes mokiert. Diese epigonal-ästhetizistische Herablassung läßt die Autorin (zumal in diesem Fall) selbst nicht gerade schön erscheinen.
REPLY:
Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, brauchen Sie hier nicht zu lesen. Es gibt ausreichend Blogs, in denen nicht „getändelt“ wird.
bemerkenswert erscheint mir…
das ihre texte den temperaturen trotzen. sie werden weder wirrer, noch kürzer. respekt. sie schreiben klimatisiert, nehme ich an?
REPLY:
Die Frage ist, was ist eine schlecht designte Zeitschrift? Es gab eine
Zeit, da war für mich alles, was Hochglanz war, automatisch
Igittebähbäh. Heute würde ich sagen, das Design muss dem Gegenstand
angemessen sein, und dann ist bei einem Obdachlosenmagazin, vom Preis
abgesehen, eh klar, dass außer Recyclingpapier und einfacher Aufmachung
nichts in Frage kommt. Ansonsten, wobei ich als jemand, der selber designt
mir nun natürlich ins Bein schneide, finde ich allzuviele Grafiken und Bilder
beim Lesen im Allgemeinen hinderlich. Man illustriert ja auch keine Romane.
Was das Obdach angeht, ich habe ja nun einige Berber kennengelernt – wir gewährten
einem über einige Jahre Zuflucht auf unserem Hinterhof – und viele von denen haben
ein spezielles Problem: Nach Jahrzehnten Platte machen können die nicht mehr in
Räumen wohnen, da kriegen die Klaustrophobie.
REPLY:
Leider nicht. Ein Königreich für eine Klimaanlage.
REPLY:
Ja, das ist sicher ein Problem, gegen das alle staatliche und private Hilfe machtlos ist. Da kann man nur versuchen, die gesundheitlichen Folgen von Obdachlosigkeit abzumildern.
REPLY:
aahn letztes Wort noch. Nee, soll man nich, alles kleinreden, was man hat. Jedenfalls im Vergleich zu anderen europaischen Laendern,in denen ich gelebt hab und leb, ist der deutsche Sozialstaat ungefaehr so weitmaschig wie der Portugals. Das ist immerhin besser als Afrika. Ueberall gibts mehr Stuetze, ueberall finden die Leute schneller Arbeit und ueberall gibt es auch einen Mindestlohn und nirgendwo werden die Arbeitslosen so schikaniert wie in Deutschland.
Solange man nicht drauf angewiesen sein muss, brauch es auch nicht zu interessieren, das ist schon richtig. Platz an der Sonne halt.
REPLY:
Da stimme ich Madame Modeste zu!
Wer ihren Salon nicht mag, möge einen anderen aufsuchen. Dieser aber – Modeste sei Dank – möge bleiben, wie er ist.